Das Blut der Azteken
Jaguars sind Geschöpfe der Nacht. Der Jaguar beherrscht die Nacht. Der Adler jagt tagsüber. Die Adlerritter waren zwar genauso tapfere Krieger wie die Jaguarritter, doch die Adlerpriester hatten keinen Trank, der dafür sorgte, dass ihre Krieger keine Schmerzen empfanden, und es ihnen selbst ermöglichte, ihre Gestalt zu verändern.«
Ich lauschte gern, wenn der Zauberer mir die Geschichte der Indios erklärte, und ich verglich das Gehörte mit dem, was ich von Bruder Antonio und anderen erfahren hatte. Für die Spanier war die Geschichte eine Abfolge von Ereignissen - Könige und Königinnen, Kriege, Eroberungen und Niederlagen. Ärzte schrieben ihre Heilmethoden nieder, Seefahrer zeichneten Karten und schilderten ihre Abenteuer, und alles wurde in Büchern festgehalten. In den Augen des Zauberers hingegen bestand die Geschichte aus Magie und den Bewegungen der Seele. Die Magie stammte von Geistern und Göttern, die selbst in einem Stein stecken konnten. Die Seele stand dafür, wie das Handeln der Götter die Menschen beeinflusste.
Ich wusste, dass die Spanier die Logik auf ihrer Seite hatten. Doch wenn der Zauberer von Menschen, die sich in Jaguare verwandelten, und von Tränken, die einen Mann unbesiegbar machten, sprach, hatte ich das Gefühl, dass seine Erzählungen von einer anderen Form des Wissens zeugten und keineswegs unsinnig waren.
Wie die Spanier die Geschichte der Indios darstellten, erschien mir keineswegs schlüssiger als die Version des Zauberers. Fanatische Priester hatten die meisten Bücher der Azteken verbrannt, weshalb sowohl die Spanier als auch der Zauberer auf jahrhundertealte, überlieferte Legenden angewiesen waren. Die Spanier hatten zwar den Vorteil, dass sie ihre Geschichte in Büchern dokumentierten, die von einer Gelehrtengeneration zur nächsten weitergegeben wurden, aber eines hatte der Zauberer ihnen dennoch voraus: Im ganzen Indioreich gab es Tausende von Inschriften auf Mauern, Tempeln und anderen Bauwerken. Jeden Tag gingen einige davon verloren oder wurden durch Unwissenheit zerstört. Doch da der Zauberer im Laufe seines langen Lebens weit herumgekommen war, hatte er viele gelesen. Er verfügte über ein Wissen, das den Spaniern verschlossen blieb und das sie niemals entdecken würden, da die Inschriften zu Staub zerfielen oder in Stücke geschlagen wurden, anstatt ihre Botschaften zu interpretieren.
Die Spanier hatten eine Fülle von Tatsachen in Büchern festgehalten. Der Zauberer hingegen hatte die Geschichte gelebt, nicht nur die seiner Zeit, sondern auch die längst vergangener Tage. Er schlief, aß, sprach und dachte nahezu genauso, wie es seine Vorfahren schon vor Tausenden von Jahren getan hatten er war ein lebendiger Tempel des Wissens.
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Noch nie hatte ich eine so große Stadt besucht wie Puebla de los Angeles, die Stadt der Engel. Für Mateo hingegen war sie, verglichen mit Mexiko-Stadt, verhältnismäßig klein.
»Mexiko ist eine richtige Stadt, kein aufgeblasenes Provinznest wie Puebla, Veracruz oder Oaxaca. Es ist wunderschön dort. Eines Tages, Bastardo, nehme ich dich dorthin mit. Wir werden das beste Essen und die schönsten Frauen genießen. In einem Freudenhaus dort gibt es nicht nur braune und weiße Mädchen, sondern sogar ein gelbes.«
Das mit der Chinesin beeindruckte mich wirklich. Auf dem Markt hatte ich einmal eine Chinesin gesehen und mich gefragt, wie sie wohl ohne Kleider aussah.
Wir schlugen am Stadtrand von Puebla unser Lager auf. Auch einige Kaufleute und Indiozauberer hatten sich dort niedergelassen. Doch vom naualli entdeckten wir keine Spur.
Ich begleitete den Zauberer und die anderen zu dem Platz mitten in der Stadt, auf dem ein Erntefest stattfinden sollte. Obwohl Mateo Puebla als belanglos abtat, war ich begeistert. Puebla lag - ebenso wie Mexiko-Stadt, das ich nur aus Erzählungen kannte - auf einer Hochebene abseits der Küste; in der Ferne erhoben sich Berge. Mateo erklärte mir, dass die Architektur der von Toledo in Spanien ähnelte.
»Einer der bedeutendsten Dichter ist auf den Straßen von Puebla gestorben«, hatte er mir zuvor gesagt, als die Stadt in Sicht kam. »Gutierre de Cetina war ein Poet und Schwertkämpfer, der für den König in Deutschland und in Italien gefochten hat. Nach der Eroberung kam er auf die Bitte seines Bruders hin nach Mexiko. Leider konnte er besser mit Worten umgehen als mit dem Schwert. Er wurde von einem Nebenbuhler im Duell um eine Frau umgebracht. Es heißt, er sei getötet worden, nachdem
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