Das Blut der Azteken
glaubt, der Besitzer sei von einem Indio getötet worden, der die Gestalt eines Jaguars angenommen hat.«
»Die Anzahl verdächtiger Todesfälle steigt ständig«, fügte ein anderer Händler hinzu. »Ich habe eine ähnliche Geschichte von einem Kaufmann gehört, der sich während einer Reise in Luft aufgelöst hat. Seine Diener haben sich mit den Waren aus dem Staub gemacht. Einer wurde aufgespürt und gefoltert. Bis zum letzten Atemzug beharrte er darauf, sein Herr sei von einem Wer-Jaguar angegriffen und in den Dschungel verschleppt worden. Allerdings werden nicht nur wir Spanier zu Opfern. Meine eigenen Diener wagen sich nicht mehr aus dem Haus, wenn wir nicht mit einer Maultierkarawane und anderen Kaufleuten reisen. Sie behaupten, dass Indios und Mestizen, die für die Spanier arbeiten, von abgerichteten Jaguaren gejagt und gefressen würden.«
Mateo schnalzte mitleidig mit der Zunge. »Haben Eure Diener Euch berichtet, wer diese Jaguare abrichtet?«
Alle waren sich einig, dass nie ein Name gefallen sei. Mateo erkundigte sich nicht ausdrücklich nach den Rittern des Jaguars, vermutlich schwieg er, weil er Antworten haben wollte, anstatt welche zu liefern.
»Der Vizekönig sollte sich mit diesem Problem befassen«, sagte ein Händler. »Wenn er es nicht schafft, müssen wir eine Beschwerde an den Indischen Rat in Sevilla schicken.«
Der dritte Händler lachte höhnisch auf. »Mein halbes Leben lang bereise ich jetzt schon die Straßen Neuspaniens. Diese Geschichten sind nichts Neues. Bei den Indios gibt es ständig Gerede, dass jemand uns aus ihrem Land vertreiben wird, und zwar immer mittels Zauberei. Dass sich ein Mensch in einen Jaguar verwandelt kann, ist nichts weiter als ein Hirngespinst dieser einfachen Leute.«
»Ich halte es nicht für ein Hirngespinst, sondern für wahr.«
Dieser Einwand fiel von unerwarteter Seite. Der Priester, der hinzugekommen war, trank einen großen Schluck Wein und wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab.
»Ich habe mit diesen Wilden gelebt«, sagte er. »Sie hassen uns, weil wir ihnen das Land, ihre Frauen und ihren Stolz genommen haben. Sonntags besuchen sie die Kirche und geben vor, an unseren Erlöser zu glauben. Dann gehen sie wieder nach Hause und opfern ihre Kinder. Wusstet Ihr das nicht? Kleinkinder mit lockigem Haar werden geopfert.«
»Kleinkinder mit lockigem Haar?«, wiederholte ein Kaufmann.
»Sie opfern Kinder mit lockigem Haar, weil die Locken an die Wellen in einem See erinnern und deshalb den Seegott zufrieden stellen. Wenn ein Baby bei der Opferung weint, symbolisieren die Tränen den Regen, was den Regengott erfreut. Ich kann diese Wilden nicht ertragen«, fuhr der Priester fort und wischte sich wieder über die Stirn. »Sie praktizieren die schwarze Magie des Satans. Ganz gewiss sind sie Verbündete des Teufels und können sich in Wer-Jaguare verwandeln, genauso wie es bei uns zu Hause Hexen und Zauberer gibt, die in der Lage sind, die Gestalt von Wölfen anzunehmen. Wenn es dunkel wird, treiben sie sich im Dschungel herum. Ihre Körper sieht man nie, doch ihre Augen funkeln einen an. Mein Glaubensbruder hat darüber den Verstand verloren. Vor drei Tagen hat er sich am Glockenseil erhängt.«
51
Am nächsten Tag erfuhren wir, dass der naualli in einem nahe gelegenen Dorf gesichtet worden war.
Der Zauberer und ich gingen hin, um den Schlangenzauber vorzuführen. Mateo und José wollten den Spaniern in der Gegend Gitarren verkaufen.
Das Dorf war um einiges größer als das, in dem wir unser Lager aufgeschlagen hatten, und eigentlich eher eine kleine Stadt. Unterwegs erzählte mir der Zauberer, dass der Magier dieses Dorfes Träume deuten konnte.
Der Zauberer und der Traumdeuter redeten und rauchten, bis die kleine Hütte so verqualmt war, dass ich mich nach draußen flüchtete. Drinnen hatte ich eine interessante Neuigkeit erfahren: In einem Nachbardorf war ein kleinwüchsiger Mann verschwunden, der Sohn einer alten Witwe. Er hatte mit einem Nachbarn pulque getrunken und war nicht wieder nach Hause gekommen.
»Es heißt, Tlaloc habe den Zwerg mitgenommen«, hatte der Traumdeuter gesagt. Ja, wenn Trockenheit herrscht, ist Tlaloc an allem schuld, dachte ich.
Tlaloc war der durstige Gott, der den Regen schickte. Wenn er zufrieden war, wuchsen Mais und Bohnen in den Himmel, und alle hatten genug zu essen. War er aber zornig, ließ er die Ernte vertrocknen oder überflutete sie. Die Händler hatten davon gesprochen, dass ihm kleine Kinder
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