Das Blut der Azteken
konnte. Wände und Decken des Innenraums wurden zwar von Holzbohlen gestützt, doch von außen waren nur Stein und Lehmziegel zu sehen.
Der L-förmige Wohnbereich nahm zwei Drittel der Grundfläche ein; ein kleiner Stall und ein großer Hof befanden sich ebenfalls innerhalb der Mauern.
Im Garten wuchsen viele Bäume, und an den Mauern rankten sich grüne Kletterpflanzen und Blumen hinauf, sodass die bunte Farbenpracht eine Freude war.
Und hier, in diesem Haus, dieser Festung, diesem Dorf, diesem kleinen Königreich sollte ich nun von einer Raupe in einen spanischen Schmetterling verwandelt werden.
Der Don wollte mich in den Wissenschaften, der Medizin und der Baukunst unterweisen. Er war ein Gelehrter und unterrichtete mich in Vorträgen und mithilfe von Büchern, ganz wie an einer Universität. Mein zweiter Lehrer hingegen war aus einem anderen Holz geschnitzt.
Mateo war mein Mentor in allen Dingen - abgesehen vom Buchwissen -, die einen Edelmann aus mir machen wü rden: Reiten, Fechten, der Umga ng mit Dolch und Muskete, galantes Benehmen und das Essen mit Messer und Gabel an einem Tisch und von einem silbernen Teller. Es fiel mir nämlich schwer, aus Angst, dass die nächste Mahlzeit ausfallen könnte, nicht so viel Essen wie möglich auf einmal in mich hineinzustopfen.
Mateo verfügte zwar äußerlich betrachtet über alle Fähigkeiten eines Edelmannes, doch es fehlten ihm Don Julios Ruhe und Geduld, und ich erntete für jeden Patzer blaue Flecke.
Erst zwei Jahre später lernte ich lsabel, Don Julios Gattin, kennen, und sie hinterließ bei mir bei weitem keinen so guten Eindruck wie der Rest seiner Familie. Auch wenn ich zugeben muss, dass sie wirklich eine Schönheit war, war sie außerdem eitel. Der Duft ihres süßen Parfüms konnte ihre Hochnäsigkeit nicht überdecken, und sie war letztlich eine Medusa mit Schlangenhaar, die alle um sich herum in Stein verwandelte.
Don Julio hatte zwar keine Kinder, aber dennoch eine Familie. Seine Schwester Inez war ein paar Jahre älter als er; ihre Tochter hieß Juana.
Inez erinnerte mich an einen ängstlichen kleinen Vogel, der hie und da einen Krümel aufpickt, sich aber dabei ständig nach Feinden umsieht. Sie war eine ernste Erscheinung und trug stets ein schwarzes Witwengewand. Zunächst nahm ich an, ihr Gatte sei verstorben. Doch später erfuhr ich, dass sie sich in Schwarz hüllte, seit dieser - ein paar Monate vor Juanas Geburt - mit einem Dienstmädchen durchgebrannt war. Niemand hatte ihn je wieder gesehen.
Juana, die Tochter, war vier Jahre älter als ich und lebhafter als ihre Mutter, die immer noch um den Taugenichts von einem Ehemann trauerte. Leider hatte Gott Juana zwar mit einem scharfen Verstand und einem freundlichen Lächeln bedacht, sie aber in körperlicher Hinsicht benachteiligt. Sie war ausgesprochen mager und litt an Glasknochen. Da ihre vielen Knochenbrüche nicht richtig ausgeheilt waren, war sie leicht verkrüppelt und musste sich beim Gehen auf zwei Stöcke stützen.
Allerdings besaß sie trotz ihrer körperlichen Behinderung ein fröhliches Gemüt und verfügte über eine bemerkenswerte Intelligenz. Ich hatte von klein auf gelernt, dass sich die Fähigkeiten einer Frau im Kochen und Kinderkriegen erschöpften. Deshalb war es sehr lehrreich für mich zu hören, dass Juana nicht nur lesen und schreiben konnte, sondern wie Don Julio in den Klassikern, der Medizin, den Naturwissenschaften und der Astronomie bewandert war. Ich fühlte mich an ein junges Mädchen erinnert, das mir Unterschlupf in seiner Kutsche gewährt und kühn davon gesprochen hatte, sich als Mann zu verkleiden, um studieren zu können.
Don Julios breit gefächertes und umfangreiches Wissen veränderte meine Weltsicht. Der Don machte mir klar, dass das Leben viel größere Abenteuer und Herausforderungen zu bieten hatte, als ich es mir je erträumt hätte. Bruder Antonio hatte mir erzählt, dass vor mehr als hundert Jahren, noch vor der Eroberung des Aztekenreiches, in Europa eine bedeutende Epoche geherrscht habe, in der längst vergessene Kenntnisse wieder entdeckt worden seien. Diese Zeit habe Männer wie Kardinal Francisco Jimenez de Cisneros, den Gründer der Alcalá-Universität, hervorgebracht. Außerdem den Italiener Leonardo da Vinci, der nicht nur Maler, sondern auch Militärexperte gewesen sei und Festungen und Kriegsmaschinen entwickelt hätte. Darüber hinaus hätte er den menschlichen Körper so gründlich erforscht, wie es noch nie zuvor versucht
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