Das Blut der Azteken
einsamer Finger, der mich einem unbekannten Schicksal entgegenwinkte.
Neuspanien war nicht gut zu mir gewesen und hatte fast alle getötet, die mir etwas bedeuteten. Die einzige Frau, die ich lieben konnte - ein Geschöpf von strahlender Anmut und poetischer Feinfühligkeit -, war zu einem Dasein als Ehesklavin eines abgrundtief abscheulichen Mannes verurteilt. Für eine Frau wie sie musste das vergleichbar mit den Jahren sein, die ich in den Kerkern und Bergwerken der Kolonie verbracht hatte.
Dennoch war Neuspanien meine Heimat. Als ich den weißen, winkenden Finger des Vulkans betrachtete, wurde mir ganz wider Willen warm ums Herz. Sevilla war eine stolze und prächtige Stadt und der Grenzstein eines gewaltigen europäischen Imperiums, doch mein Herz und meine Seele waren mit eisernen Ringen an die Neue Welt gekettet. Dieses unwirtliche, unterentwickelte Land hatte meine Vorfahren, die Azteken, genährt und mich zu dem gemacht, der ich war und der ich vielleicht später einmal sein würde. Und trotz der Peitschen, Folterkammern, Kerker und Bergwerke hatte ich hier Mut, Treue, Freundschaft, Ehre, ja, sogar Bildung kennen gelernt. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit hatte ich mich gut entwickelt und kehrte als wohlhabender, kultivierter Herr nach Hause zurück.
Ja, ich war hier zu Hause.
Allerdings wurde meine Freude über das Wiedersehen davon getrübt, dass ich Vergeltung üben musste. Auge um Auge genügte mir nicht - ihre Untaten sollten die Verbrecher den Kopf kosten. Der Gedanke, mich an den Mördern von Bruder Antonio, Don Julio und dessen Familie zu rächen, ließ mich nicht mehr los.
Sobald ich mich zur Rückkehr entschlossen hatte, begann ich, Rachepläne zu schmieden. Seit meinem Aufbruch nach Veracruz gingen sie mir schon im Kopf herum, und nun brachen sie sich ständig und unaufhaltsam Bahn. Ich glaubte, einen Weg gefunden zu haben, um die Mörder zur Rechenschaft zu ziehen und sie vom Erdboden zu tilgen.
Der Tag, an dem das Botenschiff in der Rinne zwischen der Inselfestung San Juan de Ulúa und der Stadt Anker warf, war mein fünfundzwanzigster Geburtstag. Den Vormittag verbrachte ich im Verhör mit einem Zollinspektor und einem Vertreter der Inquisition. Ich hatte darauf geachtet, nichts bei mir zu führen, woraus man mir einen Strick hätte drehen können. Das einzige Buch in meinem Gepäck war eine Lebensgeschichte des heiligen Franziskus, wirklich ein religiöses Werk, nicht eines der anstößigen Bücher, wie ich sie früher mit falschem Einband verkauft hatte.
Vor meiner Abreise aus Sevilla hatte ich mir einen neuen Namen und eine neue Biographie zugelegt, aber auf hoher See beides wieder verworfen. Ich begegnete einer besseren Lösung in Form eines jungen Mannes, der etwa in meinem Alter war. Er war der dritte Sohn eines verarmten spanischen Adligen und aus Spanien geflohen, um nicht Priester werden zu müssen. Als wir vom Kurs abkamen und für eine Weile Anker an einer idyllischen Insel werfen mussten, verschwand er vom Schiff, um den Rest seines Lebens dort in den Armen eines eingeborenen Mädchens zu verbringen und in der Sonne zu liegen. Don Carlos - ein Name, der meiner Ansicht nach gut zu mir passte - war ein freundlicher junger Taugenichts und hatte mir während unserer gemeinsamen Wochen viel über seine Familie und seine Vergangenheit erzählt. Bald kannte ich den Namen seines Vaters, seiner Mutter und seiner Schwestern und Brüder, die Geschichte der Familie und ihre Stellung in der Gemeinde. Als ich vorgab, mir in der Neuen Welt ein Haus kaufen zu wollen, das dem spanischen Stil entsprach, zeichnete er mir einen Grundriss des Familienanwesens und das Wappen auf.
Da ich gut angezogen war, seriös wirkte, nichts Verbotenes bei mir hatte und mich mit der herablassenden Arroganz eines Caballero gebärdete, hatte ich die Überprüfung rasch hinter mir. Ich steckte den Beamten ein kleines Trinkgeld zu, wie es nur die tun, die wirklich reinen Gewissens sind.
Ein Beiboot brachte mich zum Ufer. Ich sah, dass die Kaufleute bereits ihre Waren am Kai aufstapelten. Der Silberschatz befand sich schon in der Stadt und wurde in einem verschlossenen Raum im Palast des Alcalde verwahrt.
Während meines Aufenthalts im Veracruz stieg ich im Gasthof am Hauptplatz ab, vor dessen Tür ich vor vielen Jahren um einen Platz zum Betteln gekämpft hatte. Ich erkannte keinen der léperos, die mich um ein Almosen anflehten, doch das war nicht weiter erstaunlich, denn die Lebenserwartung eines
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