Das Blut der Azteken
versuchen würde zu kommen, befürchtete ich auch, er könne meinetwegen in Schwierigkeiten geraten sein, sodass ich nun auf mich allein gestellt war. Was sollte ich essen? Wo sollte ich schlafen? Diese Gedanken quälten mich, als ich im Gebüsch lag und die Straße aus Veracruz im Auge behielt.
Meine Situation unterschied sich kaum von der, die in dem Buch Das Leben und die Abenteuer des Pícaro Guzmán de Alfarache geschildert wurde. Es gehörte zu den Werken, die Bruder Antonio vergeblich vor mir versteckt hatte und das sogar noch beliebter war als Don Quijote, an dessen Erlebnissen sich ganz Spanien und Neuspanien erfreuten.
Während Cervantes' Ritterfigur den Niedergang des Romantischen einläutete, hatte Guzmán de Alfarache diesen sentimentalen Helden durch eine Gestalt ersetzt, die besser in unsere grausame Zeit passte: den Pícaro. Wie allgemein bekannt ist der Pícaro ein unmoralischer Schwerenöter, der sich lieber mit Gerissenheit als mit harter Arbeit durchschlägt.
Guzmáns Geschichte beginnt in Sevilla, der schönsten und prächtigsten aller spanischen Städte. Als der Pícaro vierzehn Jahre alt ist, bringt sein Vater, ein ausgesprochen zwielichtiger Mensch, das Familienvermögen durch und stirbt als armer Mann. Deshalb ist unser verzweifelter Held gezwungen, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, und folgt dabei offenbar dem zweifelhaften Beispiel seines Vaters.
Von betrügerischen Wirten übers Ohr gehauen und von Straßenräubern überfallen, lernt er schon als junger Mann, dass sich jeder selbst der Nächste ist. Doch trotz seiner Unerfahrenheit ist er der geborene Pícaro und im Grunde seines Herzens ein Gauner. Er fühlt sich in allen Kreisen der Gesellschaft zu Hause, ganz gleich ob er einen Schweinebauern um eine Kupfermünze anbettelt oder mit einem Grafen in dessen Schloss soupiert.
Auf seiner ziellosen Reise von Spanien nach Italien verliert er seine feinen Kleider und sein Geld, schließt sich einer Horde Bettler an und wird ein Tunichtgut und Spieler. Er versucht es als Küchenhelfer mit ehrlicher Arbeit, aber bald setzt sich selbst in dieser misslichen Lage seine verbrecherische Ader durch. Als ein silberner Kelch vermisst wird - natürlich hat unser langfingriger Freund ihn an sich genommen -, ist die Frau des Kochs vor Angst außer sich, denn sie weiß, dass der Herr sie und ihren Mann durchprügeln oder sie sogar ins Gefängnis stecken wird. Aber der erfinderische Guzmán kommt ihr zur Hilfe. Er reinigt und poliert den Kelch, bis er wie neu aussieht, und verkauft ihn ihr als Ersatz. Selbstverständlich bringt er das unrechtmäßig verdiente Geld rasch mit leichten Mädchen und beim Kartenspiel durch.
Nachdem er viele Jahre lang nur knapp der Strafe entgangen ist, landet er in Rom, der Hauptstadt der katholischen Welt, wo er sich einer Horde von Bettlern anschließt. Diese haben das Betteln zu einer Kunst entwickelt und sogar eine Bettlergilde mit geschriebenen Gesetzen und Regeln gegründet.
Schon bald stellt Guzmán, der sich bis dahin immer als Meisterbettler betrachtet hat, fest, dass die Römer, die einst die Welt beherrschten, ihm eine Menge beibringen können. Dazu gehört auch, dass man sich Männern und Frauen auf unterschiedliche Weise nähern muss.
»Männer«, so erklärt ihm sein Lehrer, »lassen sich vom Gejammer der meisten Bettler nicht anfechten. Wenn man sein Anliegen geradeheraus vorträgt, ist es viel wahrscheinlicher, dass sie in die Tasche greifen. Da viele Frauen hingegen die Jungfrau Maria anbeten, entlocken wir ihnen das Geld, indem wir uns auf sie berufen. Häufig ist es auch sehr wirksam, dafür zu beten, dass sie von allen Todsünden bewahrt bleiben mögen. Wenn man solchen frommen Wünschen Nachdruck verleiht, öffnen sie häufig ihre Börse.«
Allerdings hat Guzmán das Betteln bald satt und wendet sich wieder der Aristokratie zu, was jedoch kein leichtes Unterfangen ist. Er gibt sich als junger Adliger aus, verführt einige der schönsten Frauen und macht sich zu guter Letzt, verfolgt von eifersüchtigen Liebhabern, aus dem Staub.
Als ihn Schuldgefühle übermannen, beschließt er, Priester zu werden. Doch kurz bevor er geweiht werden soll, brennt er mit einem gefallenen Mädchen durch, das natürlich mit einem anderen davonläuft, nicht ohne Guzmán zuvor um seinen letzten Peso erleichtert zu haben.
Ein Wiedersehen mit seiner Mutter führt nicht etwa dazu, dass sie ihn auf den richtigen Weg zurückbringt. Stattdessen wird sie seine
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