Das Blut der Azteken
der Zwerg, der am Eingang die Eintrittsgelder einsammelte, mit finsteren Blicken, doch da ich schließlich ein Pícaro war, zeigte ich ihm die kalte Schulter. Immerhin hatten auch einige Priester vor der Absperrung Posten bezogen und die Decken hochgeklappt, wodurch sie die Truppe ebenso skrupellos wie ich um das Eintrittsgeld brachten. Selbstverständlich stellte sie niemand deswegen zur Rede.
Bevor das Stück begann, heizten die beiden Pícaras die Stimmung unter den zum Großteil männlichen Zuschauern an, indem sie Süßigkeiten verkauften und dabei schamlos kokettierten. Da es in Neuspanien zwanzigmal so viele spanische Männer wie Frauen gab, war das männliche Publikum von diesen beiden Spanierinnen hingerissen auch wenn es sich nur um Pícaras handelte. Manchmal fragte ich mich, ob die Spanier im Mutterland ihre Frauen ebenso anbeteten.
Der Zwerg trat auf die mit Gras bewachsene ›Bühne‹.
»Polen, ein altes Königreich am Meer, liegt nordöstlich unseres sonnigen Spaniens. An dieses arktische Reich grenzen die Alemannen, die Dänen und die Russen an. Bevor unsere Geschichte beginnt, wird dem König von Polen ein Prinz geboren. Seine geliebte Königin stirbt im Wochenbett. Die Hellseher bei Hofe sagen einen schrecklichen Krieg voraus, der den Thron des Königs bedrohen wird. Blutvergießen, Schlachten und Zerstörung würden im Lande wüten, bis der König selbst tot dem Prinzen zu Füßen läge. Was soll der König nun tun?«, fragte der Zwerg die Zuschauer in dramatischem Flüsterton. »Soll er das Kind töten lassen? Seinen leiblichen Sohn, geboren von seiner geliebten Braut?«
Der Zwerg hielt inne, um einen Schluck Wein aus einem Kelch zu trinken. Ich wusste schon seit Mateos Vortrag von ›El Cid‹, dass die Schauspielerei offenbar Durst machte.
»Da der König befürchtet, dass der Prinz sein Königreich verderben könnte, lässt er einen hohen, uneinnehmbaren, fensterlosen Turm bauen.«
Der Zwerg schlug einen bedrohlichen Tonfall an. »Tief unten in dieser bedrückenden, düsteren Festung wächst der Junge in Ketten gelegt und gehüllt in Tierhäute heran. Nur ein Sterblicher darf sich dem Prinzen nähern, ein alter Weiser, der ihn in den Künsten und im Lesen und Schreiben unterweist und ihm von den Tieren und den Vögeln erzählt. Doch er erklärt ihm nicht die Listen und Ränke der Menschen.«
»Eine schöne Bildung ist das«, stöhnte ein Witzbold im Publikum.
»Und ein spannendes Theaterstück«, höhnte ein anderer.
»Wo ist der mordlüsterne Pirat?«, beschwerte sich ein weiterer Kritiker. »Und wo der furchtlose Held?«
»Mateo Rosas, den die meisten von euch aus den großen Theatern von Sevilla und Madrid kennen, hat dieses Meisterwerk von Pedro Calderón de la Barca persönlich zu eurer Erbauung ausgesucht. Wie wir alle wissen, wird Calderón als Meister der Dramatik nur von Lope de Vega übertroffen.«
Aus dem Murren der Zuschauer schloss ich, dass Mateos erlauchter Name ihnen nichts sagte. Außerdem verstand ich ihren Widerwillen gegen das Stück nicht. Ein Prinz, der in einem dunklen Turm gefangen gehalten wurde, regte meine blühende, wenn nicht gar übertrieben ausufernde Phantasie an, und ich wollte wissen, wie er sich wohl fühlen würde, wenn er seinem Kerker entrann - und das erste Mal die Außenwelt und seinen Vater erblickte. Gebannt starrte ich auf die Bühne.
Ungerührt fuhr der Zwerg fort.
»Unsere Geschichte fängt an, als sich das Leben des Königs dem Ende zuneigt. Doch wer soll sein Nachfolger werden? Sein rechtmäßiger Erbe schmachtet seit seiner Geburt in Ketten. Wenn er stirbt, ist als Nächster der Neffe des Königs an der Reihe, der Herzog eines Landes namens Moskau, eines düsteren, wilden Gebiets am Ende der Welt, östlich von Polen.
Also treffen sich der König, der Herzog und alle wichtigen Männer des Königreichs im Palast, um die Frage zu erörtern. Soll man dem Prinzen erlauben zu regieren, oder muss er aufgrund der Weissagung getötet werden? Der König beschließt, den Prinzen, der inzwischen ein erwachsener Mann ist, auf die Probe zu stellen, um herauszufinden, ob er von Vernunft oder von blinder Wut geleitet wird. Um jeglicher Gefahr vorzubeugen - vergesst nicht, dass ihm nicht nur schreckliche Dinge vorhergesagt worden sind, sondern dass der Prinz zudem sein ganzes Leben im Gefängnis verbracht hat -, betäubt der König seinen Sohn und weist seine Lehrer an, ihm zu sagen, all seine Erinnerungen seien nur Träume.
Gleichzeitig trifft
Weitere Kostenlose Bücher