Das Blut der Azteken
wohl sein mochte, Eltern, Brüder und Schwestern zu haben, jede Nacht in einem Bett zu schlafen und an einem Tisch zu essen, von einem Teller und mit Messer und Gabel.
Als ich aufstehen wollte, bemerkte ich auf einem anderen Hügel gegenüber ein Feuer und sah im Mondlicht schemenhafte Gestalten umherhuschen. Ich wusste, dass auf diesem Hügel ein kleiner Aztekentempel stand, einer von zahllosen vergessenen und verlassenen Überresten eines untergegangenen Reiches.
Ich war neugierig, wer sich mitten in der Nacht in diesem heidnischen Tempel herumtreiben mochte.
Also stieg ich den Hügeln hinab und kletterte den anderen hinauf, wobei ich darauf achtete, keinen Lärm zu machen und vielleicht die Toten aufzuwecken - oder die Leute aufzuschrecken, die sich in dem Tempel aufhielten.
Als ich fast oben angekommen war, blieb ich stehen und lauschte. Ich hörte einen Mann die Sprache die Azteken sprechen. Die Worte verstand ich zwar nicht, doch an den Hebungen und Senkungen erkannte ich einen Spruch, den auch der Zauberer häufig benutzte. Ich pirschte mich näher heran, um die Pyramide in Augenschein zu nehmen. Sie war klein und aus Stein und hatte Stufen, die fast so breit waren wie das Gebäude selbst.
Oben auf dem Tempel und auf der Treppe hatten sich einige Männer versammelt und ein Feuer angezündet. Da die Männer mir die Sicht versperrten, konnte ich nur einen Teil der züngelnden Flammen sehen.
Lautlos kletterte ich auf einen Baum, um alles genauer betrachten zu können. Da mir noch immer ein Mann im Weg stand, musste ich mich ziemlich verrenken, um festzustellen, welche Form der Gotteslästerung hier betrieben wurde. Als der Mann beiseite trat, wurde mir klar, dass es sich nicht um ein großes Feuer, sondern um mehrere, eng zusammengestellte Fackeln handelte, die tief in die Erde gebohrt worden waren, vermutlich damit man sie aus der Entfernung nicht bemerkte. Die Flammen erleuchteten einen großen Steinblock. Ich hörte schrilles Gelächter, die Stimme eines Mannes, der offenbar zu viel pulque getrunken hatte. Als er wieder lachte, kam ich zu dem Schluss, dass es kein pulque, sondern ein Zaubertrank gewesen sein musste.
Plötzlich packten vier Männer den lachenden Mann, zwei ergriffen seine Beine, zwei seine Arme. Als sie ihn ausgestreckt auf den Steinblock legten, bemerkte ich, dass dieser ein wenig gewölbt war, sodass der Mann den Rücken durchdrücken musste.
Eine dunkle Gestalt trat an den Block. Sie wandte mir zwar das Gesicht zu, doch die Dunkelheit verhinderte, dass ich sie erkannte. Allerdings kam sie mir vertraut vor, was vor allem an dem langen Haar lag, das bis zur Taille hinunterreichte.
Ich wurde von Angst und einer unheilvollen Vorahnung ergriffen, denn ich konnte mir schon denken, was nun bei dieser seltsamen mitternächtlichen Zeremonie geschehen würde. Mein Verstand sagte mir, dass das alles nur gespielt war, so wie der Schaukampf zwischen den Aztekenkriegern. Dennoch legte sich eine eiskalte Hand um mein Herz.
Der Magier hob die Hände über den Kopf. Das Licht der Fackeln spiegelte sich in der dunklen Klinge aus Obsidian, die er mit beiden Händen umklammerte. Dann stieß er dem Mann die lange Klinge in die Brust. Der Mann schnappte nach Luft, und sein Körper zuckte und warf sich umher wie eine Schlange, der man den Kopf abgeschnitten hatte.
Der Henker öffnete ihm den Brustkorb, griff hinein, wich zurück und hielt ein noch schlagendes Herz ans Licht. Die Männer seufzten ehrfürchtig auf.
Meine Arme und Beine versagten ihren Dienst. Ich fiel aus dem Baum und stürzte, begleitet von einem Schrei, zu Boden.
Dann rannte ich durchs Gebüsch zu unserem Lager, so schnell wie damals, als der Aufseher mich mit dem Schwert gejagt hatte. Ich lief, als wären die Höllenhunde mir auf den Fersen.
Während meiner wilden Flucht hörte ich etwas hinter mir. Es war kein Mensch, sondern ein Wesen, das sich - anders als ich - nicht auf zwei Füßen fortbewegte.
Es näherte sich rasch. Ich drehte mich um und holte mit dem Messer aus, als sich das Etwas so schnell wie der Blitz auf mich warf. Es verschlug mir den Atem, denn ich wurde nach hinten geschleudert und spürte scharfe Klauen auf meiner Brust. Schützend hielt ich mir den Arm vor die Kehle.
Plötzlich war der Zauberer da und rief etwas. Das Geschöpf, das auf mir kauerte, war so schnell verschwunden, wie es gekommen war.
Der Zauberer half mir beim Aufstehen. Während er mich ins Lager zurückbrachte, stammelte ich unter Tränen
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