Das Blut der Azteken
begründet und Bauwerke hinterlassen, die wie die der Pharaonen die Jahrhunderte überdauern werden. Sie wussten mehr über die Bewegungen der Gestirne und Planeten, als wir es heute tun, und hatten einen genaueren Kalender als wir.
Deine Vorfahren waren große Baumeister. An der Ostküste gab es ein Volk, das schon zur Zeit von Christi Geburt Gummi von den Bäumen erntete. Wie die Azteken meißelten sie kunstvolle Verzierungen in ihre Bauwerke ein. Aber womit? Sie hatten keine Werkzeuge aus Eisen, ja, nicht einmal aus Bronze. Wie haben sie den Stein bearbeitet?
Wie die Azteken besaßen sie weder Wagen noch Lasttiere. Dennoch bewegten sie riesige Gesteinsblöcke, die so viel wogen wie Hunderte von Männern; sie waren so schwer, dass kein Wagen und kein Gespann der Christenheit sie von der Stelle schaffen könnte. Und trotzdem transportierten sie sie über große Strecken, Berge hinauf und hinunter, über Flüsse und Seen, viele Kilometer entfernt vom Steinbruch. Wie? Vermutlich wurde das Geheimnis in den Tausenden von Büchern enthüllt, die die Mönche verbrannt haben.«
»Vielleicht war ein Archimedes unter ihnen«, sagte ich. Bruder Antonio hatte mir von den Leistungen der Indios erzählt, deren Pyramiden weit in den Himmel ragten, und sie mit denen des Archimedes verglichen. »Omnis homo naturaliter scire desiderat.«
»Der Mensch neigt von Natur aus dazu, immer mehr wissen zu wollen«, übersetzte Don Julio den lateinischen Satz. Er blieb stehen und sah mich eindringlich an. Seine Augen funkelten schalkhaft. »Du kannst die Aztekenschrift lesen, erzählst von einem alten Griechen, zitierst Latein und kennst die spanische Literatur. Du sprichst Spanisch ohne Indioakzent. Und als ich gerade eben auf Náhuatl fortgefahren bin, hast du geantwortet, fast ohne nachzudenken. Außerdem bist du größer und hellhäutiger als die meisten Indios. Und woher deine Kenntnisse stammen, ist für mich so rätselhaft wie die Frage, wie diese riesigen Steine über das Gebirge geschafft wurden.«
Ich hätte mich ohrfeigen können, weil ich mein Wissen so gedankenlos zur Schau gestellt hatte - oder das von Bruder Antonio, um genau zu sein. Nun hatte ich den Argwohn des Mannes geweckt. Obwohl seit den Morden und der Suche nach mir drei Jahre vergangen waren, stand es mir wieder vor Augen, als ob es gestern gewesen wäre. Ich ließ Don Julio stehen und lief davon, ohne mich noch einmal umzudrehen.
42
Am nächsten Morgen brachen wir auf nach Süden. Wir nahmen eine viel benutzte, allerdings gelegentlich unwegsame Straße und folgten dem Strom der Kaufleute mit ihren Maultierkarawanen, die vom Markt kamen.
Außer Mateo waren noch zwei Mestizen mit von der Partie, niedrigster Abschaum, üble Gesellen, die sogar in den Elendsvierteln von Veracruz unangenehm aufgefallen wären. Vermutlich wären sie in der Stadt über kurz oder lang am Galgen geendet. Sancho und seine Mestizen waren offenbar Banditen, die Reisende überfielen, ihren Opfern die Kehle durchschnitten und ihnen die Taschen leerten.
Wieder fragte ich mich, was wohl mit dem Dichter und Pícaro geschehen war, dass er sich mit solchem Gesindel abgab.
Sancho und Mateo ritten auf Pferden, die beiden Mestizen auf Mauleseln. Der Zauberer und ich bildeten, zu Fuß und unseren Esel am Zügel, den Schluss der Kolonne. Häufig waren die Männer wegen der Beschaffenheit des Bodens gezwungen, abzusteigen und ihre Tiere zu führen. Unterwegs rückte Mateo immer näher an mich und den Zauberer heran. Ich wusste nicht, ob er unsere Gesellschaft suchte oder uns bewachen wollte, doch ich vermutete, dass er gern Abstand zu Sancho hielt.
»Du sprichst gut Spanisch«, stellte Mateo fest, während wir weitergingen. »Du hast offenbar viel von den Priestern gelernt.«
Da die Priester die einzigen waren, die Indios unterrichteten, lag diese Annahme auf der Hand. Allerdings glaubte ich nicht, dass er damit auf Bruder Antonio anspielte. Er wollte nur plaudern und hatte nicht vor, mich über meine Herkunft auszuhorchen -das hoffte ich wenigstens. Es war ihm auch weiterhin nicht anzumerken, ob er wusste, wer ich in Wirklichkeit war. Ganz gleich, welche Mühe ich mir auch gab, mein Spanisch klang immer gewählter als das anderer Indios. Ich versuchte zwar, zu sprechen wie ein Bauernjunge, aber das war schwierig, wenn ich gezwungen war, eine Unterhaltung zu führen, anstatt nur einsilbige Antworten zu geben. Eigentlich hatte ich Mateo verheimlichen wollen, dass mein Spanisch so gut war wie
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