Das Blut der Azteken
gleichzeitig auch eine Warnung. Wahrscheinlich haben die Azteken sie angebracht, um reisenden Kaufleuten und anderen Stämmen klar zu machen, was mit Städten passiert, die ihren Tribut nicht entrichten.«
»Sehr gut. Ich kann die Bilder auch lesen, aber es ist eine aussterbende Kunst.« Er schüttelte den Kopf. »Mein Gott, die Geschichte und all das Wissen gingen verloren, als die Mönche sie verbrannten. Die Bibliothek in Texcoco besaß literarische Schätze, die der große König Nezahualcóyotl gesammelt hatte. Sie war der großen Bibliothek von Alexandria ebenbürtig. Und sie wurde zerstört.«
»Mein Aztekenname ist Nezahualcóyotl.«
»Ein ehrenwerter Name, auch wenn er hungriger Kojote bedeutet. Dein Namenspatron war nicht nur ein König, sondern hat auch Gedichte und Lieder geschrieben. Aber wie so viele Könige hatte er auch menschliche Laster. Da er die Frau eines seiner Höflinge begehrte, schickte er den Mann in den Krieg und gab seinen Hauptleuten Befehl, dafür zu sorgen, dass er fallen würde.«
»Ach, das Verbrechen, dass der Kommandant Ocaña gegen Peribáñez begehen wollte.«
»Du kennst das Stück von de Vega?«
»Ein Priester hat mir davon erzählt.«
»Ein Priester, der sich für etwas anderes interessiert als die Passionsspiele? Diesen Mann muss ich kennen lernen. Wie ist dein spanischer Name?«
»Sancho«, erwiderte ich, ohne zu zögern.
»Sancho, wie denkst du als Indio darüber, dass die Spanier gekommen sind und die Kultur der Indios zerstört und ihre Bauwerke dem Verfall überlassen haben?«
Da er mich offenbar für einen Indio hielt, schwand meine Angst, mit ihm zu sprechen.
»Der Gott der Spanier war mächtiger als die Götter der Azteken.«
»Sind die Aztekengötter jetzt alle tot?«
»Nein, es gibt noch viele Aztekengötter. Einige wurden vernichtet, doch andere haben sich nur versteckt, um neue Kräfte zu sammeln«, wiederholte ich die Worte des Zauberers.
»Und was werden sie tun, wenn sie wieder zu Kräften gekommen sind? Werden sie die Spanier aus Neuspanien vertreiben?«
»Es wird wieder eine große Schlacht geben wie in der Offenbarung des Johannes, in der Feuer, Tod und Hungersnot über die Erde kommen.«
»Wer hat dir das erzählt?«
»Die Priester in der Kirche. Alle wissen, dass es eines Tages einen großen Krieg zwischen Gut und Böse geben wird und dass nur die Guten überleben werden.«
Don Julio lachte und schlenderte weiter durch die Ruinen. Ich folgte ihm. Eigentlich hätte ich Sporenträgern aus dem Weg gehen sollen, aber dieser Mann war hoch gebildet, fast weise und erinnerte mich darin an den Zauberer und an Bruder Antonio.
Es war einige Jahre her, dass ich zuletzt Menschen mit europäischer Bildung begegnet war. Dieser Mann war ein Gelehrter wie Bruder Antonio, und ich brannte darauf, ihm zu zeigen, was ich wusste.
»Nicht nur die Bibel sagt das«, fuhr ich fort. »Es heißt auch, dass die Jaguarkrieger die Spanier aus diesem Land vertreiben werden.«
»Wo hast du das gehört?«
Sein Tonfall weckte meinen Argwohn. Doch als ich ihn fragend ansah, lächelte er nur.
»Wo hast du das gehört?«, wiederholte er.
Ich zuckte die Achseln. »Das habe ich vergessen. Wahrscheinlich auf dem Markt. Bei den Indios gibt es immer solches Gerede, aber es ist harmlos.«
Don Julio wies auf die Ruinen. »Du solltest sehr stolz auf deine Vorfahren sein. Schau dir die Bauwerke an, die sie hinterlassen haben. Es existieren noch viel mehr davon, und einige sind so groß wie Städte.«
»Die Priester verbieten uns, stolz zu sein: Unsere Vorfahren seien Wilde gewesen, die Tausende von Menschen geopfert und sie sogar aufgefressen haben. Stattdessen sollten wir dankbar sein, dass die Kirche dieser Gotteslästerung ein Ende bereitet hat.«
Er murmelte seine Zustimmung zu den Worten der Priester, aber ich hatte den Eindruck, dass es sich nur um den üblichen Respekt gegenüber der Kirche handelte, der nichts damit zu tun hatte, ob man diese Meinung auch wirklich teilte.
Lange gingen wir zwischen den Ruinen umher, bevor er wieder das Wort ergriff. »Die Riten der Azteken waren grausam, und dafür gibt es keine Entschuldigung. Doch angesichts dessen, was wir Europäer getan haben, unserer Kriege gegeneinander und gegen die Ungläubigen, all der Unmenschlichkeit und Gewalt, würden die Azteken vermutlich fragen, ob wir das Recht haben, den ersten Stein zu werfen. Aber ganz gleich, wie wir ihr Handeln beurteilen, sie haben jedenfalls eine mächtige Zivilisation
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