Das Blut der Lilie
sehe Alex zusammengeschlagen und blutend auf dem Boden
ihrer Kammer liegen.
Ich sehe Louis Charles in seiner kalten, dunklen Zelle.
Ich sehe Truman zum Abschied winken.
Ich sehe meine Mutter auf dem Rand ihres Klinikbettes sitzen.
Ich sehe einen schäbigen blauen Renault davonfahren. Ich
sehe, wie er am Ende der StraÃe um eine Ecke biegt und verschwindet.
Dann lege ich das Tagebuch weg und werfe drei Qwells ein.
Weil eine nicht ausreicht, um den kommenden Tag durchzustehen, geschweige denn
den Rest meines Lebens.
  48 Â
Amadé Malherbeau war ein Rockstar.
Ich stehe vor seinem Porträt, das Jean-Baptiste Greuze 1797
gemalt hat, aber ich könnte auch ein Foto von Mick Jagger betrachten, das Annie
Leibowitz 1977 aufgenommen hat. Malherbeau trägt ein weiÃes Hemd mit offenem
Kragen. Sein langes dunkles Haar fällt ihm über die Schultern. Er hat volle
Lippen, ausgeprägte Wangenknochen und dunkle, eindringliche Augen. Ich habe Reproduktionen
des Porträts in Büchern gesehen, aber sie sind nichts im Vergleich zum
Original.
Er sitzt in einem Sessel mit einer roten Rose in der Hand.
Ein Dorn an ihrem Stiel hat ihn gestochen. Blut tropft von einem seiner Finger.
Neben ihm steht ein Tisch, darauf zwei gerahmte Miniaturen, die einen Mann und
eine Frau zeigen. Der Mann hat dunkles Haar und dunkle Augen. Die Frau ist
blond und schön. Auch sie halten Rosen in den Händen.
Ein Schild an der Wand erklärt, bei den Personen auf den
Miniaturen handle es sich wahrscheinlich um Malherbeau und eine Frau, die er
liebte. Da Malherbeau nie verheiratet war, wurde die Beziehung wahrscheinlich
gelöst. Diese Annahme werde durch die Rosen auf den Miniaturen und die Rose in
Malherbeaus Hand gestützt, die sich als eine Schönheit interpretieren lieÃ,
deren Dornen ihn verletzten.
Ich sehe mir die Rose in seiner Hand genauer an â die Art,
wie die Blütenblätter gemalt sind, die GröÃe des Dorns â und könnte schwören,
sie schon einmal gesehen zu haben, weià aber nicht mehr, wo. Ich trete zurück
und lichte das Porträt ab. Dann gehe ich weiter, fotografiere die Wände mit den
verblichenen handbemalten Tapeten und den alten Damastvorhängen sowie den Blick
aus den Fenstern.
Ich komme nur schwer voran, weil ich das Gefühl habe, meine
FüÃe wund gelaufen zu haben. Die Wirkung der Qwells hat heute Morgen
eingesetzt. Ich habe ein wenig geschlafen, es dann gegen Mittag geschafft, aus
dem Bett zu kriechen, zu duschen und mich quer durch Paris zum Bois de Boulogne
zu schleppen. Ich habe versprochen, meinem Vater heute Abend die Skizze meiner
Abschlussarbeit zu präsentieren, und das habe ich ernst gemeint. Morgen werde
ich ins Flugzeug steigen. Bis dahin muss ich nichts weiter tun, als einen FuÃ
vor den anderen setzen.
Seit einer Stunde bin ich inzwischen hier und mache Fotos für
meine Arbeit. Das Personal hat nichts einzuwenden gegen Kameras, so lange man
kein Blitzlicht benutzt. Ein Teil des Erdgeschosses â der alte Ballsaal â wurde
in einen Konzertsaal umgewandelt, der Rest beherbergt die Ausstellung von
Malherbeaus Hinterlassenschaften. Bis jetzt habe ich eine Vihuela, eine Barockgitarre
und eine Mandoline fotografiert, die dem Meister gehörten, sowie Kleidung,
Möbel, mehrere Kaffeekannen, Notenblätter und Statuen.
Ich wandere von Raum zu Raum und knipse weiter. Als ich
erneut an dem Portrait vorbeigehe, fällt mir plötzlich wieder ein, wo ich die
Rose schon einmal gesehen habe â auf einem Wappen in G.s Haus. G. sagte, es sei
sehr alt und habe den Grafen von Auvergne gehört. Die Worte, die darauf
geschrieben standen, lauteten: Aus dem Blut der Rose wachsen Lilien.
Ich frage mich, ob es irgendeine Verbindung geben könnte.
Wahrscheinlich nicht. Wie sollte die auch aussehen? Höchstwahrscheinlich war
Malherbeaus Rose das traurige Symbol einer verlorenen Liebe. Wie das Schild
besagte.
Mein Blick wandert von der Rose zu Malherbeaus Augen, die so
dunkel und gequält wirken. Ich kann es ihm nachfühlen. Ich habe Mitleid mit
ihm. Er wirkt so gar nicht wie der geniale Komponist. Eher wie ein unglücklicher
Liebhaber. Ich frage mich, ob ihn ein gebrochenes Herz zu seiner erstaunlichen
Musik inspiriert hat. Und was zwischen ihm und der blonden Frau wohl schief
gelaufen ist.
Vielleicht hatten sie Streit. Vielleicht hatte sie sich in
einen anderen verliebt. Vielleicht mochte ihr Dad keine Musiker.
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