Das Blut der Lilie
Clubs, in Cafés und Salons
â halten Männer in Seidenröcken und mit weichen Händen wütende Reden â
Desmoulins, Danton, Robespierre,
St. Just, Hébert, Marat. Keiner von ihnen ist in Paris geboren, trotzdem kommen
sie alle hierher. Jeder unzufriedene Franzose kommt in die Stadt, das Herz
voller Kränkung und Groll, den Kopf mit Visionen von Ruhm und Rache angefüllt,
und für alles, was ihm in seinem Leben misslang, gibt er dem König die Schuld.
Sie sind sehr wortgewandt, diese Männer. Sie wiegeln
die Leute auf. Im Sommer schlieÃlich kommt es zu Krawallen auf den StraÃen. Die
Bastille fällt. Die Fischweiber marschieren
nach Versailles. Und plötzlich ist sie da â die Revolution. Sie verspricht
einen neuen Tag, der strahlend hell beginnt. Ein Goldenes Zeitalter und
Freiheit für alle. Und wir glauben an diese Versprechungen, von ganzem Herzen.
Eine Weile lang. Bis eine Maschine namens Guillotine auf der Place Louis XV . aufgestellt wird. Bis Tausende von den
Schinderkarren abgeholt werden.
Nun befinden wir uns in der Zeit nach der Revolution.
Nach der Verkündung der Menschenrechte. Nach der Verfassung. Nach den
Massakern. Nach der Monarchie. Nach dem Untergang dieser oder jener Partei.
Nach Krieg und Terror.
Jetzt tragen wir Musselin, keine Seide mehr. Wir
schlieÃen unsere Schuhe mit schwarzen Bändern statt mit Silberschnallen, und
unser Haar ist nicht mehr gepudert. Wir sind alle gleich. Der schmutzigste
Bettler ist genauso viel wert wie ein König, und jeder vor sich hin pfeifende
Anstreicher hält sich für Michelangelo.
Dennoch wird das Beil auch weiter hochgezogen und fällt
herab. Noch immer rollen Köpfe in den Korb. Noch immer leidet ein Unschuldiger,
in einen Turm gesperrt. WeiÃt du warum, kleiner Spatz? Nein? Dann werde ich es
dir sagen.
Weil wir nach all den zerstörten Hoffnungen, nach all
dem BlutvergieÃen und Tod wie aus einem Albtraum erwacht sind, nur um
festzustellen, dass die Hässlichen noch immer nicht schön und die Langweiligen
noch immer nicht geistreich sind. Dass der eine besser singt als der andere.
Dass ein anderer die Stelle bekam, die ich wollte. Dass die Kuh der Nachbarn
mehr Milch gibt als die meine. Dass da Leute sind, die ein gröÃeres Haus haben als
ich. Dass mein Nebenbuhler das Mädchen geheiratet hat, das ich liebte. Und
keine Schrift, keine Verordnung, kein Gesetz und keine Erklärung wird daran je
etwas ändern.
Er verschränkt die Arme vor der Brust und sagt abschlieÃend:
Das ist sie! Das ist meine Chronik. Was hältst du davon?
Dasselbe wie von Ihnen, Monsieur â wenig.
Blödsinn! Was ist falsch an meiner Darstellung?
Ich stelle mir das Gefängnis vor, dunkel und kalt. Und
das sterbende Kind, das darin eingeschlossen ist. Und plötzlich breitet sich Schmerz
in mir aus. Es ist, als wäre ich in einen tiefen Brunnen gefallen, und der
Kummer, der sich anfühlt wie schwarzes Wasser, füllt meinen Mund, meine Augen
und Ohren. Ich kann nichts sehen, nichts hören oder schmecken auÃer
Verzweiflung.
Los, sag es!, bellt der Herzog von Orléans. Wo ist der
Fehler?
Am Anfang, antworte ich. Bei dem Teil über meine Seele.
Daran ist nichts falsch. Es ist die Wahrheit.
Ich hebe den Blick, blind vor Tränen, und sehe ihn an.
Das ist nicht wahr, Monsieur. Ja, ich wollte meine
Seele verkaufen, und hätte sie gern hingegeben, denn sie ist ein unbedeutend
Ding und von keinerlei Wert für mich. Aber es war nicht meine Seele, die mir
genommen wurde, nein.
Es war mein Herz.
23. Mai 1795
Sie wurden in Varennes gefangen genommen und nach Paris
zurückgeschleppt.
Sie machten Fehler. Wie hätte es auch anders sein
können? Sie, die niemals auch nur ein Tintenfass füllen mussten, sollten
plötzlich in der Lage sein, eine Flucht zu planen? Die Königin verirrte sich
auf dem Weg zur Kutsche und hielt die anderen damit auf. Ein Wagenrad brach.
Eine Eskorte wartete nicht an der vereinbarten Stelle.
Sie befanden sich nur fünfzehn Meilen vor Montmédy, als
sie geschnappt wurden. Wie ist es möglich, dass eine Stunde Verspätung, einige
wenige Meilen, ein gebrochenes Wagenrad zum Sturz eines Königs führen, einen
Krieg auslösen, ein Land für immer verändern können?
Ein Postmeister sah sie in Sainte-Menehould und
erkannte sie. Es hatte alles in den Flugblättern gestanden. Er ritt ihnen nach,
überholte sie in
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