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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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ein schändlicher, verkommener Ort ist unsere Welt, die so etwas zulässt?
    Ich habe meinen Kopf in meinen Armen verborgen, um mein
Schluchzen zu unterdrücken, als ich Schritte in meiner Kammer höre. Ich blicke
auf. Es ist der Herzog von Orléans. Er steht am Kamin und streicht mit den
Fingern über den Sims. Sein Mantel hat schon zu faulen begonnen. Blut ließ den
Spitzenkragen an seinem Hals erstarren.
    Ich wische mir die Augen. Ist man einsam, wenn man tot
ist?, frage ich ihn.
    Kaum.
    Vermissen Sie Paris? Ist es das?
    Es vermissen? Es ist so trübsinnig geworden, dass ich
es kaum mehr wiedererkenne.
    Warum kommen Sie dann zurück. Bloß, um mich zu quälen?
    Um dich zu drängen fortzugehen. Sie sind Fauvel auf den
Fersen. Sie werden ihn nicht verhaften. Noch nicht. Sie werden ihn benutzen, um
dich zu erwischen.
    Ich werde nicht gehen.
    Es ist sinnlos. Du riskierst ganz umsonst dein Leben.
    Ich riskiere mein Leben für ihn. So lange er lebt, gibt
es Hoffnung. Er könnte entlassen werden. Die Zeiten ändern sich. Die Herzen den
Menschen ändern sich.
    Das Gelächter des Herzogs klingt wie totes Laub im
Wind.
    Nichts ändert sich, außer die Namen der Schurken in der
Regierung, sagt er. Sag mir, kleiner Spatz, was sind das für Papiere? Ein
letzter Wille, ein Testament? Ein Geständnis? Buße für deine vielen Sünden? Was
schreibst du nieder?
    Einen Bericht, entgegne ich. Eine Chronik der
Revolution.
    Wozu?
    Um eine Antwort auf alles zu finden. Sie muss hier drin
enthalten sein. Irgendwo in diesen Seiten, in allem, was passiert ist. Es muss
einen Grund dafür geben. Ich werde ihn finden.
    Noch eine Chronik? Wie langweilig, sagt der Herzog.
Jeder Schwachkopf in Paris verfasst zurzeit eine Chronik, oder schlimmer noch,
ein Tagebuch. Sie schreiben: Die Revolution brach aus, weil der König zu viel
Geld verschwendete. Oder: Die Revolution begann, als der König die Stände aus
der Versammlungshalle aussperrte. Aber sie täuschen sich. Weißt du, warum sie
begann, kleiner Spatz? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Du hast dich
nicht für Freiheit, Gleichheit oder Brüderlichkeit interessiert. Sondern nur
für Ruhm und Reichtum, und hättest deine Seele dafür verkauft. Hättest? Was
sage ich da?
Du hast es getan!
    Ich bitte Sie, Monsieur, gehen Sie.
    Aber das tut er nicht. Stattdessen spaziert er mit auf
dem Rücken gefalteten Händen in der Kammer herum.
    Wenn du eine Antwort willst, so sollst du eine haben,
sagt er. Ich werde dir von der Revolution erzählen, kleiner Spatz. Hör mir
genau zu – sie hatte nichts mit dem König zu tun. Könige haben wenig mit
Revolutionen zu tun. Revolutionen sind nicht zu ihrem Vorteil. Es begann mit
kleinen Dingen, die kleinen Leuten widerfuhren. Es begann mit Collot d’Herbois,
dem schlechten Schauspieler, der mit Buhrufen von der Bühne gejagt wurde.
Mit Marat, dem Quacksalber, den man wegen seiner idiotischen Theorien in der
Akademie verlachte. Es begann mit Fabre d’Églantine, dem schlechtesten Dichter
Frankreichs, der seine miserablen Kritiken las.
    Vor allem begann es mit Maximilien Robespierre. Stell
ihn dir im Alter von siebzehn Jahren vor – ein von Almosen abhängiger Junge im
Lyzeum »Louis LeGrand«, mutterlos, mit schäbigen Kleidern unter den Söhnen der
Reichen. Da er wortgewandt ist und voller Ideen steckt, wird er ausgewählt, vor
dem Herrscherpaar eine Rede im Namen der Schule zu halten. Es regnet an diesem
Tag. Er wartet draußen, wie die Etikette es verlangt. Eine Stunde. Zwei. Vier.
Schließlich treffen die königlichen Herrschaften ein. Sie verdecken ihre
gähnenden Münder, während er spricht, und brechen sofort auf, nachdem er
geendet hat. Frierend und durchnässt, mit ruinierten Schuhen, kehrt Maximilien
in seine Kammer zurück und wird diesen Tag nie vergessen.
    Keiner von ihnen vergisst. Sie warten. Worauf wissen
sie nicht. Aber sie spüren es herannahen. Wenn sie von Kutschenrädern mit Dreck
bespritzt werden. Wenn sie von der Straße in die Cafés blicken. Nachts in ihren
schmalen Betten, wenn sie sich an den täglichen Spott und Hohn erinnern, spüren
sie es. Und es erregt sie.
    Ich wende dem Herzog von Orléans den Rücken zu, was ihn
aber nicht zum Schweigen bringt.
    Es ist der Frühling des Jahres 1789, fährt er fort. Das
Land ist bankrott und überall – an Straßenecken, in

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