Das Blut der Rhu'u (German Edition)
noch Energie besaßen.
Somit waren die Feinde zufällig auf das Geheimnis der Rhu’u und des Arrod’Sha gestoßen. Der Stein konnte nur vernichtet und seiner Macht beraubt werden, wenn der letzte Rhu’u tot war.
Aber auch Rhu’Ca und ihre restlichen sechs Geschwister hatten bemerkt, dass ihr Kristall zersplittert und ihre Macht empfindlich geschwächt war. Wenn sie überleben wollten, mussten sie fliehen. Da sie in der Unterwelt nirgends mehr sicher sein konnten, flohen sie an den einzigen Ort, der ihnen vielleicht einen gewissen Schutz bieten konnte: die Welt der Menschen. Und ihre Feinde versteckten die neun Kristallsplitter in verschiedenen Dimensionen, damit die Macht der Rhu’u für alle Zeiten gebrochen bleiben sollte.
*
Tunga, Schottland, 1295 n. Chr.
Rhu’Camur hatte schon seit einiger Zeit – Jahrhunderten, um genau zu sein – gespürt, dass seiner Familie Gefahr drohte. Genauer gesagt, seit die Schwarzroben ins Land gekommen waren, Männer, die dem Christus dienten. Sie versuchten, den Leuten einzureden, ihre alten Götter seien böse Geister und Teufel und vollkommen machtlos. Camur wusste es besser. Aber die Schwarzroben hatten langsam Erfolg. Er war mit seiner Familie in den äußersten Norden Schottlands geflohen und hatte eine Weile hier unbehelligt leben können. Aber inzwischen waren die Christenpriester auch nach Tunga*) gekommen, hatten fast alle Dorfbewohner bekehrt und die meisten von diesen davon überzeugt, dass finstere Geschöpfe unter ihnen weilten.
Jetzt war in dieser Angelegenheit sogar eine Versammlung einberufen worden. Camur saß wie alle Männer des Dorfes in der Versammlung und hörte dem Dorfältesten zu.
»Höllenkreaturen sind unter uns«, erklärte der. »Der Priester hat sie gesehen. Wir müssen etwas unternehmen.«
Einige Männer lachten. »Die hat er bestimmt auf dem Grund seines Bierkrugs gesehen!«, witzelte einer. »Oder hat irgendeiner von uns schon mal einen ihrer Teufel zu Gesicht bekommen?«
Allgemeines Kopfschütteln antwortete ihm. »Ich sage, unser Dorf ist von guten Mächten gesegnet! Die Sidhe besuchen uns regelmäßig und schenken uns Freude. Sie würden uns auch vor ›Höllenkreaturen‹ beschützen. Falls es das, was die Schwarzroben ›Hölle‹ nennen, tatsächlich gibt.«
Camur unterdrückte ein Schmunzeln. Die Freuden spendenden Sidhe waren er und seine Familie, die mit den Menschen als Inkubi und Sukkubi schliefen, wobei sie jedem das Gesicht und die Gestalt zeigten, die er als begehrenswertestes Geschöpf der Welt empfand. Deshalb konnte niemand in den »Sidhe« die Mitglieder der geachteten Familie Mac Leodugh erkennen, die mitten unter ihnen lebten und nach außen hin gottesfürchtige Christen waren.
Immerhin war die Hölle, von der die Priester sprachen, tatsächlich identisch mit einem bestimmten Teil der dämonischen Unterwelt. Aber es war Camur ein Rätsel, wie sie davon erfahren hatten.
»Was ist, wenn sie recht haben?«, beharrte der Dorfälteste. »Wenn die Sidhe wirklich Teufel sind, wie sie sagen?«
*)Tunga: heute Tongue am Kyle of Tongue an der Nordküste Schottlands
»Ach, Unsinn! Nach ihren eigenen Worten sind ihre Teufel böse. Aber hat je eine Sidhe uns etwas Böses angetan?«
Das entfachte eine heftige Diskussion, in der es dem Dorfältesten und seinen Anhängern tatsächlich immer mehr gelang, Zweifel in den Herzen der Menschen zu wecken. Camur entschied, dass es an der Zeit war, Tunga zu verlassen und sich anderswo eine neue Heimat zu suchen. Nachdem die Zweifel gesät waren, wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis das Misstrauen begann und jeder jeden argwöhnisch beobachtete und bespitzelte.
Die Zeiten waren ohnehin schlecht. Der englische König Edward Longshanks führte Krieg gegen die Schotten. Auch wenn die Kämpfe noch nicht bis in diese abgelegene Gegend gekommen waren, waren die Auswirkungen des Krieges auch hier spürbar. Erst vor ein paar Tagen hatte eine Gruppe von vierzehn Kriegern ihr Lager vor dem Dorf aufgeschlagen. Sie waren die einzigen Überlebenden eines Kampfes einiger Clans gegen Edwards Truppen. Alle ihre Kampfgefährten waren gefallen. Da sie mit dem Kampf auch ihr Heim verloren hatten, waren sie auf der Suche nach einem neuen Zuhause.
Camur verließ unbemerkt die Versammlung und machte sich auf den Heimweg zu seinem Gehöft, das außerhalb des Dorfes lag. Als er an dem Lager der Krieger vorbeikam, sah er sie alle ums Lagerfeuer versammelt vor einer leuchtenden
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