Das Blut der Unschuldigen: Thriller
oder ich?«
Eltern und Geschwister sahen ihn betrübt an.
»Unser Leben hängt von dir ab«, gab Raschid seinem Sohn traurig zu bedenken. »Ich kann dich nicht zwingen zu kämpfen, aber wenn du es nicht tust …«
»Schon gut«, sagte Hamsa mit Tränen in den Augen. Dann verließ er das Haus und tauchte in der Dunkelheit des Abends unter.
Auf diesem von Obstbäumen bestandenen Stück Erde war er zur Welt gekommen, im bescheidenen Haus seiner Eltern,
und hier war er glücklich gewesen, stets mit dem Leben zufrieden, das er geführt hatte. Gemeinsam mit dem Vater hatte er den Boden bearbeitet, ihn begleitet, wenn er den mit Obst und Gemüse beladenen Esel zum Markt in die Stadt führte. Sehnsuchtsvoll erinnerte er sich an die Abendmahlzeiten im Freien, wenn Onkel und Tanten zu Besuch gekommen waren und er, als er noch klein war, mit Vettern und Kusinen zwischen den Bäumen und Büschen Versteck gespielt hatte.
Seine Welt ging in Stücke, weil mit einem Mal Feinde darin aufgetaucht waren, die er sich nicht einmal selbst hatte aussuchen können.
Was sollte er David sagen? Sicherlich nicht die Wahrheit. Er würde ihm aus dem Weg gehen müssen, sich von ihm fernhalten …
Innerlich musste er lachen, als er daran dachte, wie sie einander kennengelernt hatten. Er hatte die Bewohner des Kibbuz durch den Zaun beobachtet, weil er ein Auge auf ein, wie er vermutete, gleichaltriges weizenblondes Mädchen geworfen hatte. Beim Blick in ihre wunderschönen blauen Augen waren ihm die widersprüchlichsten Empfindungen gekommen. Bis dahin hatten ihn Mädchen nicht sonderlich interessiert, doch jenes so unwirklich scheinende junge Geschöpf hatte es ihm angetan.
Wenn er ihr winkend zulächelte, hatte sich sein Herzschlag beschleunigt. Am liebsten wäre er über den Zaun gesprungen und hätte ihr beim Apfelsinenpflücken oder Unkrauthacken geholfen. Als er David zum ersten Mal sah, war dieser dabei, den Boden für die Aussaat vorzubereiten. Seinem Gesichtsausdruck nach schien ihm das schwerzufallen, und von Zeit zu Zeit war er sich mit den Händen auf den Rücken gefahren und hatte ihn heftig gerieben. Man konnte deutlich merken, dass er
diese Arbeit nicht gewohnt war. Doch im Kibbuz mussten alle mit anpacken, ganz gleich woher sie kamen und was sie vorher getan hatten. Ganz wie Hamsa und seine Familie lebten die Kibbuzim von den Früchten des Landes.
Als David den Blick hob, hatte er ihn gesehen und war auf den Zaun zugegangen. Da er dabei lächelte, war Hamsa nicht fortgelaufen, wie er das zu tun pflegte, wenn ihn Jakob sah, der Leiter des Kibbuz, ein schlanker Mann mit finsterem Gesicht.
Sie hatten sich auf Englisch unterhalten, das beide radebrechten, und bereits nach wenigen Minuten war es ihnen vorgekommen, als hätten sie einander schon immer gekannt. Als David erklärte, dass ihn alles schmerzte, hatte ihm Hamsa seine Hilfe angeboten, und David hatte sie zu seinem Erstaunen angenommen. So hatte er zum ersten Mal den Kibbuz betreten und das Glück gehabt, das Mädchen, von dem er träumte, aus der Nähe zu sehen. Sie war Russin, hieß Tanja, war erst fünfzehn Jahre alt und sprach so gut wie kein Englisch.
Seither war er im Kibbuz wie selbstverständlich ein und aus gegangen, genau so wie David in seinem Elternhaus, wo er stets willkommen gewesen war.
Jetzt würde er ihm sagen müssen, dass er nicht mehr kommen sollte. Auch er würde nicht mehr auf die andere Seite des Zaunes gehen.
Machmud hatte gesagt, man werde Hamsa am nächsten Morgen holen. Zweifellos sollte er im Umgang mit Waffen ausgebildet werden, denn ihm war ausschließlich das Werkzeug des Ackerbauern vertraut. Man würde ihm beibringen, wie man andere Menschen tötet. Das Wort »töten« rief in ihm Entsetzen hervor, der Gedanke daran schien ihm unwirklich. Wie würde es sein, wenn er jemanden tötete? Was würde er empfinden,
wenn er sah, wie jemand vor ihm zu Boden stürzte? Und was, wenn er selbst umkam?
Trotz der Dunkelheit ging er ziellos bis zur Erschöpfung weiter. Zum ersten Mal fürchtete er den Anbruch des nächsten Tages.
»Ihr solltet ihm nicht zu sehr vertrauen. Es ist unausweichlich, dass wir einander eines Tages als Feinde gegenüberstehen«, sagte Jakob zu David und einigen anderen jungen Leuten, mit denen er sich nach dem Abendessen zu unterhalten pflegte.
»Er ist mein Freund, und ich werde nie gegen ihn kämpfen. Wir können miteinander über die Unterschiede reden. Es gibt keinen Grund, sich gegenseitig umzubringen. Unser
Weitere Kostenlose Bücher