Das Blut der Unschuldigen: Thriller
können.«
»Ja, entweder in einem Autounfall oder weil die uns erschossen hätten. Eine große Auswahl hat man da nicht, und manchmal gar keine.«
»Sie sind ja verrückt!«, schrie ihn David an.
»Werd bloß nicht hysterisch! Hast du nicht selbst gesagt, wir Juden dürften nicht zulassen, dass man uns weiterhin umbringt? Dass wir eine Heimat brauchen, ein Land, das uns gehört? Was glaubst du, wie wir das bekommen können?«, brüllte Saul zurück. »Glaubst du etwa, das schenken die uns? Jetzt sind die Völker der Welt wegen der sechs Millionen ermordeten Juden noch entsetzt, aber das werden sie im Laufe der Zeit vergessen. Wenn wir bis dahin nicht dafür sorgen, dass wir die Möglichkeit haben, uns selbst zu schützen, wird man uns wieder umbringen. Hast du eigentlich in all diesen Jahren nichts gelernt?«
David schwankte zwischen Wut und Demütigung. Das Leben in Palästina war für ihn nicht immer einfach gewesen. Zwar sah er die Entscheidung seines Vaters, ihn dorthin zu schicken, als richtig an, denn damit hatte er ihm das Leben gerettet, doch war der Preis dafür sehr hoch gewesen. Nicht nur hatte er ein behagliches Leben aufgegeben und die Menschen hinter sich gelassen, die ihn liebten, sondern auch hart arbeiten müssen. Er hatte Geschirr gewaschen, Säuglinge gewickelt,
Zäune geflickt, Tiere gefüttert und sich die Hände auf dem Acker wund gearbeitet … Gewiss, er war überzeugt, dass die Juden kämpfen mussten, um das Land behalten zu dürfen, auf dem sie lebten, doch hatte er diesen Kampf immer als etwas Abstraktes gesehen. Jetzt aber hieß es, er müsse lernen zu töten, und er machte sich Vorwürfe wegen seiner Bedenken, die er dabei hatte. Immerhin war es noch gar nicht lange her, dass er davon geträumt hatte, in die Hagana eintreten zu dürfen.
Die Freundschaft mit Hamsa hatte seinen Sinneswandel bewirkt. Je mehr sie einander vertrauten und über ihre Vorstellungen miteinander sprachen, desto größer war sein Wunsch geworden zu verhandeln, statt zu kämpfen, mit Worten eine Verständigung über die unlösbar scheinenden Fragen herbeizuführen. Waren Hamsa und er etwa Dummköpfe?
Saul irrte sich, wenn er annahm, David habe seit seiner Ankunft in Palästina nichts gelernt. Er hatte begriffen, dass er einer Gesellschaft angehörte, die er bis vor nicht allzu langer Zeit als Fremdkörper empfunden hatte. Ihm war aufgegangen, dass er sich in dem Land befand, aus dem eines Tages seine Vorfahren aufgebrochen waren, und dass für sein Volk die einzige Möglichkeit zu überleben darin bestand, dorthin zurückzukehren. Ihm war durchaus bewusst, dass im Gelobten Land kein Manna vom Himmel fiel und alles, was sie ernteten, Arbeit und Schweiß kostete. Außerdem hatte er die Einsamkeit kennengelernt.
»Wir alle werden kämpfen müssen. Jetzt geht es wieder einmal um unser Überleben und nicht mehr einfach darum, dass wir uns gegenüber den Briten behaupten. Entweder kämpfen wir, um hierbleiben zu können und ein Stück von diesem Land zu bekommen, einen eigenen Staat, oder wir werden erneut über die ganze Welt verstreut in der Diaspora leben müssen,
bis man uns wieder einmal umbringt. Es tut mir leid, aber so ist es.«
Diese letzten Worte Sauls klangen resigniert. Nach einer Weile ergriff David das Wort.
»Woher wissen Sie, dass dieser … Machmud bei Hamsa und seinem Vater war?«
»So etwas mitzubekommen gehört zu meiner Aufgabe. Ich bin für die Sicherheit des Kibbuz verantwortlich.«
»Sie bespitzeln also Raschid und seine Familie.«
»Dein Leben und das aller anderen im Kibbuz kann von dem abhängen, was ich weiß oder nicht weiß. Bisher gab es keine besonderen Probleme – ich habe dir ja schon gesagt, dass ich Raschid für einen anständigen Kerl halte. Aber er wird gehorchen müssen, und das ist ihm ebenso klar wie mir.«
»Bisher hat man mir nicht zugetraut, dass ich etwas für die Verteidigung des Kibbuz tun kann.«
»Doch. Du bist Streife gegangen wie alle anderen. Wenn man uns angegriffen hätte, hättest du uns verteidigen müssen.«
»Und warum hat man mich noch nicht aufgefordert, in die Hagana einzutreten?«
»Alles zu seiner Zeit.«
»Aber manche von den jungen Leuten hat man schon aufgenommen.«
»Du musst lernen hinzunehmen, was entschieden wird. Wenn wir dich bisher nicht dazu aufgefordert haben, liegt das daran, dass du unserer Ansicht nach noch nicht so weit bist.«
»Wieso das? Meinen Sie, ich könnte kein guter Soldat sein?«
»Das lernt man. Ihr werdet
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