Das Blut der Unschuldigen: Thriller
deutschen Zeitungen brachten genauere Einzelheiten über den Anschlag und dessen Auswirkungen auf die deutsche Bevölkerung, die Opfer im Kino und in dem Wohngebäude, das die Attentäter bei ihrem Selbstmord gesprengt hatten, sowie über die dabei angerichteten Verwüstungen.
Ohne zu wissen, warum, fühlte sich der Graf unbehaglich. Er stand auf und goß sich ein Glas Calvados ein, obwohl es noch nicht einmal elf Uhr am Vormittag war. Der Apfelschnaps war zu seinem besten Begleiter in allen Lebenslagen
geworden, den er weder in glücklichen noch in schwierigen Augenblicken missen mochte.
Als Nächstes beschloss er, jemanden anzurufen. Dazu bediente er sich nicht des Festnetztelefons, das auf dem Tisch stand, sondern nahm ein Mobiltelefon aus einer Schublade. Nach einer Weile hörte er die Stimme des Mannes, mit dem er sprechen wollte.
»Guten Morgen. Ich wollte mich nach den Vorfällen in Frankfurt erkundigen …«
Die Antwort schien ihn zu beruhigen. Ohne ein weiteres Wort schaltete er das Telefon aus und legte es zurück. Ihm fiel ein, dass die Verwaltungsratsmitglieder der Stiftung ›Katharergedächtnis‹, der er seit dem Tod seines Vaters vorstand, jeden Augenblick eintreffen konnten.
Einige von ihnen waren wie er Söhne von Mitbegründern der Stiftung. Sein Vater hatte sie ins Leben gerufen, um der Suche nach dem Gral und dem Katharerschatz den Anstrich von Achtbarkeit zu verleihen.
Raymond überlegte, wie viel Geld und Kraft sein Vater und dessen Freunde für diese bislang vergebliche Suche aufgewendet hatten. Ganz nutzlos waren die Bemühungen nicht gewesen, denn immerhin war die Sprache des Languedoc erneut ins Bewusstsein der Menschen gerückt, Straßenschilder verkündeten den Touristen, dass sie sich im Land der Katharer befanden, und in zahlreichen Cafés, Restaurants und Andenkenläden las man das Wort »Katharer«. Manche der Herren im Verwaltungsrat waren wohlhabende Kaufleute, die sich der Vergangenheit ebenso verpflichtet fühlten wie er. Sie sahen sich als Erben eines Landes an, das man ihnen mit Waffengewalt entrissen hatte und das sie jetzt auf ihre Weise mit Hilfe der Gesetze des modernen Handels lenkten.
Neben Okzitaniern gehörten dem Rat auch Söhne der deutschen Freunde seines Vater an, von denen der eine oder andere dank der Großzügigkeit und der Bemühungen der Familie d’Amis die Niederlage seines Landes im Zweiten Weltkrieg überdauert hatte. Teils hatten sie sich einen anderen Namen und eine andere Staatsangehörigkeit zugelegt, teils war es ihnen gelungen, im eigenen Land unerkannt unterzutauchen. Wie zuvor ihre Väter fühlten sie sich durch den gemeinsamen Glauben geeint, durch ihr Bewusstsein, anders als andere und diesen vor allem überlegen zu sein.
Sie führten die Suche nach dem Katharerschatz fort. Von dessen Existenz fest überzeugt, ließen sie alle in ihren Bemühungen, ihn zu finden, nicht nach. Genau genommen handelte es sich bei der Stiftung um eine Art »Ritterorden«, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, das Geheimnis der Katharer zu ergründen.
Jeden dieser Herren erfüllte es mit tiefer Befriedigung zu sehen, dass Jahr für Jahr von den Berichten über die »Ketzer« angelockte junge Leute aus aller Welt ins Land der Katharer kamen. Es hatte all jene überlebt, die es zerstört hatten, und der alte Glaube lebte in den Herzen der Menschen weiter.
Der Butler klopfte leise an und trat dann ein. »Ihre Gäste sind eingetroffen.«
Es war eine wichtige Besprechung, an der nicht alle Verwaltungsratsmitglieder teilnahmen, sondern lediglich fünf Herren, die einer vom alten Grafen gegründeten geheimen Bruderschaft angehörten. Sie einte eine Sehnsucht: der übermächtige Wunsch nach Rache.
Raymond ging in den Salon, wo man ihn erwartete. Er begrüßte die anderen mit einem leichten Neigen des Kopfes und forderte sie auf, Platz zu nehmen.
»Meine Herren, ich habe gute Nachrichten. Unser Plan wird wie vorgesehen ausgeführt. Noch kann ich kein genaues Datum für den Tag unserer Rache nennen, aber bis dahin wird kein Monat mehr vergehen.«
Bilbao
Am selben Tag und zur selben Stunde ging Ignacio Aguirre ziellos durch die Straßen der Stadt, wobei er an das Gespräch dachte, das er soeben mit seinem früheren Lieblingsschüler und jetzigen Amtsbruder Ovidio Sagardía geführt hatte.
Der kräftige Wind trug den Geruch des Meeres mit sich. Aguirre warf sich vor, dass er mit dem Alter ungeduldig geworden war. Früher hatte es ihm nichts ausgemacht, sich mit
Weitere Kostenlose Bücher