Das Blut der Unschuldigen: Thriller
den Problemen junger Priester so lange zu beschäftigen, wie nötig war, um sie zu lösen.
Inzwischen lebte er gleichsam pensioniert in seiner Heimatstadt Bilbao, fern vom Vatikan, der einst der Mittelpunkt seiner Welt gewesen war. Nur von Zeit zu Zeit erkundigte sich ein Kardinal oder Bischof telefonisch bei ihm nach Einzelheiten über Vorgänge aus der Vergangenheit, an denen er beteiligt gewesen war.
Er hatte einen langen Weg zurückgelegt, seit man ihn als jungen Priester einige Monate lang als Aushilfe ins Staatssekretariat des Vatikans berufen hatte und er dann als Sekretär von dessen Leiter aus nächster Nähe alles mitbekommen hatte, was auf der Welt geschah. Zu seinen Aufgaben hatte es gehört, eingehende Informationen zu analysieren und seine Schlussfolgerungen nach oben weiterzugeben, bis sie auf die Schreibtische von Kardinälen und des Papstes gelangten.
Bei Licht besehen verdankte er seine Karriere, wenn man das so bezeichnen konnte, der Reise nach Frankreich, die er als Aushilfssekretär Seiner Exzellenz Grillo unternommen hatte, ohne dessen Unterstützung sein Leben gänzlich anders verlaufen wäre.
Er erinnerte sich noch genau an jede Einzelheit jener Reise: die Fahrt zur Burg des Grafen d’Amis, die kurze, aber intensive Verbindung mit Professor Arnaud, die Besorgnis seiner Vorgesetzten, die Katharerbewegung könne wieder aufleben, Bruder Juliáns Chronik und das Material, das ihm Arnaud bei seinem Tod hinterlassen hatte, weil er vermutete, es könne sich eines Tages für ihn als nützlich erweisen.
Jene Reise hatte die Grundlagen für alles gelegt, was sein weiteres Leben als Geistlicher bestimmt hatte.
Er hatte sich seiner Aufgabe mit großem Nachdruck gewidmet und es als Vorrecht empfunden, Gott dort dienen zu dürfen, wo es nach Ansicht seiner Vorgesetzten am dringendsten nötig war. Anders jedenfalls als Ovidio Sagardía, dem er geholfen hatte, sich in der unübersichtlichen Welt des Vatikans zurechtzufinden, weil er von dessen Fähigkeiten, Festigkeit im Glauben, forschender Intelligenz, diplomatischer Begabung und unerschütterlicher Berufung zum Priesteramt ebenso überzeugt gewesen war wie von dessen Bereitschaft, hart zu arbeiten. Und jetzt war ebendieser Mann mit einem Mal hergekommen und hatte ihm mitgeteilt, er werde all das aufgeben und nur noch einfacher Gemeindeseelsorger sein.
Mehrfach hatten sie lange telefoniert, doch dann war Sagardías Gewissensnot so groß geworden, dass Aguirre erklärt hatte, er werde ihm helfen, mit sich ins Reine zu kommen. Sie hatten vereinbart, dass er eine Weile in dem Haus in Bilbao Aufnahme finden sollte, in dem Aguirre mit zwei Amtsbrüdern
lebte, bis er Klarheit über sich selbst gewonnen hatte und imstande war zu entscheiden, wo und wie er der Kirche am besten dienen könne. Denn darum ging es Sagardía, er wollte Gott und den Mitmenschen dienen.
Auch Aguirre hatte sein Leben diesem Dienst geweiht. Genau genommen hatte Professor Arnaud die Weichen für seine weitere Laufbahn als Priester mit der Aufforderung gestellt, er solle dazu beitragen, dass kein unschuldiges Blut vergossen werde.
Kurz vor seinem Gespräch mit Sagardía hatte Aguirre mit dem Leiter des Staatssekretariats im Vatikan gesprochen, der ihm erklärte, er habe Sagardía trotz dessen Wunsch, seine Aufgabe einstweilen ruhen zu lassen, zur Teilnahme an einer Sitzung im Zusammenhang mit dem Terroranschlag von Frankfurt aufgefordert, da dieser dem Vatikan Sorgen bereitete. Die fanatischen Islamisten, die sich dazu bekannt hatten, hielten die Geheimdienste sämtlicher westlicher Länder in Atem. »Wir müssen verhindern, dass weiterhin unschuldiges Blut vergossen wird«, hatte der Kardinal zu Pater Ignacio gesagt. Das war leichter gesagt als getan.
3
Im Vatikan
Sagardía achtete nicht auf die Worte des Vortragenden. Er beklagte innerlich sein Geschick und fragte sich: Bin ich ein Spion? Wie sollte man sonst nennen, was ich tue? Obwohl ich mir dessen bewusst bin, ärgert mich, dass sie mich wie einen solchen behandeln. Ich frage mich, wie ich in diese Lage gekommen bin. In welchem Augenblick hat mein Leben die falsche Wendung genommen?
»Möchten Sie sich dazu äußern?«
»Verzeihung, Eminenz, ich habe gerade darüber nachgedacht, was die Herren soeben gesagt haben«, gab der Priester mechanisch von sich.
Die volltönende Stimme des Kardinals hatte ihn in die Wirklichkeit zurückgeholt. Dessen Blicke wie auch die der beiden anderen Männer bedrückten ihn. Sie waren
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