Das Blut der Unschuldigen: Thriller
fort.
»Es gibt aber keine Katharer mehr«, hielt Pater Domenico dagegen.
»Natürlich nicht. Aber Raymond de la Pallissière hält sich für den Bewahrer dieser Ketzerei und ist überzeugt, dass es sein Auftrag ist, das zu jener Zeit vergossene Blut zu rächen. Ich weiß nicht, ob du schon einmal in Südwestfrankreich warst, dem Teil des Landes, der sich gern ›Okzitanien‹ nennt. Falls ja, hast du sicher gesehen, dass die Katharer dort mittlerweile zu einer wahren Touristenattraktion geworden sind. Dort gibt es Hippie-Gemeinschaften, die felsenfest überzeugt sind, dass ihre Lebensweise jener der Katharer ähnlich ist. Außerdem wollen esoterische Gruppierungen in den Burgen jener Gegend kosmische Schwingungen gemessen haben. Manche Sekten haben sogar ihre Anhänger aufgefordert, Selbstmord zu begehen, um auf diese Weise in den Zustand der Vollkommenheit einzutreten, der sie ihrer Überzeugung nach Gott näher bringt. In Büchern über das angebliche Erbe der Katharer heißt es, es handele sich bei ihnen um niemand anders als die Nachkommen Jesu, ganz davon zu schweigen, dass immer wieder Leute gekommen sind, um auf Montségur nach dem legendären Katharerschatz zu graben… Viele Menschen in jenem Teil des Landes sprechen davon, dass der König von Frankreich und unsere Kirche die alleinige Schuld am Untergang der ruhmreichen Vergangenheit von Troubadouren und edlen Frauen haben. Selbst ganz einfache Leute halten sich für die Nachkommen irgendwelcher Ritter oder Troubadoure. Sicher,
die Katharer existieren nicht mehr, wohl aber Menschen, die darauf beharren, sich als deren Nachkommen und Anhänger zu bezeichnen … Der Graf ist Abkömmling einer Familie, in der es zur Zeit der Katharer eine Vollendete und mehrere Gläubige gab, und sein Vater hat mit Unterstützung von Nazis nach dem Katharerschatz gesucht. Ihrer Überzeugung nach musste es sich dabei um einen Gegenstand handeln, der dem, der ihn findet, unumschränkte Macht verleiht. Professor Arnaud hat die Leute ausgelacht und nie besonders auf das geachtet, was in diesem Zusammenhang in der Burg gesagt wurde, aber alles, was er dort gehört hat, schriftlich festgehalten.
Graf d’Amis hat seinen Sohn Raymond auf eine einzige Aufgabe hin erzogen: Er sollte den Katharerschatz bergen und nach Möglichkeit auch das Blut der Unschuldigen rächen. Raymond ist in einer Umgebung aufgewachsen, in der sich alles um diese aberwitzige Vorstellung drehte. Als ich ihn kennenlernte, war er ein unterdrückter, unsicherer Junge von zehn Jahren, der sich gegenüber seinem Vater beweisen wollte. Professor Arnauds Notizen konnte ich entnehmen, dass dieser eine Geheimgesellschaft zur Bewahrung des Erbes der Katharer und zur Suche nach deren Schatz gegründet hat. Nach außen hin hatte sich dieser Zusammenschluss, zu dessen Zusammenkünften Professor Arnaud anfangs eingeladen wurde, kulturelle Ziele auf die Fahne geschrieben. Als der Graf merkte, dass Arnauds Interesse an den Katharern ausschließlich akademischer Natur war, sorgte man dafür, dass er nicht mehr über das Treiben dieser Gesellschaft erfuhr, als unbedingt nötig war.«
»Du hast vom Blut der Unschuldigen gesprochen …«, sagte Pater Domenico.
»Ja. Damals ist viel Blut vergossen worden. Indem ich das sage, will ich aber keineswegs die Kirche verdammen. Sie gründet
sich auf Menschen, und man muss geschichtliche Ereignisse im Zusammenhang der jeweiligen Epoche beurteilen. Allerdings rechtfertigt diese Betrachtungsweise keine Irrtümer, sondern erklärt sie lediglich. Hältst du es etwa für richtig, Menschen zu töten, weil sie überzeugt sind, dass es einen Gott des Guten und einen Gott des Bösen gibt? Die Katharer sahen in der Welt das Werk des Letzteren …«
»Entschuldigung, aber es kommt mir so vor, als wenn du in deiner Besessenheit von der Chronik Dinge miteinander vermengst, die nichts miteinander zu tun haben. Zwar kenne ich die Gründe für den Umgang des Grafen d’Amis mit den Leuten dieses Karakoz nicht, doch daraus zu schließen, er könne gemeinsam mit der Gruppe einen Anschlag planen … Ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber das halte ich für lachhaft.«
Nachdem Ovidio Sagardía diese Überzeugung vorgetragen hatte, schluckte er heftig. Es bereitete ihm Unbehagen, sich dem Mann entgegenzustellen, den er so sehr bewunderte und dem er seine Laufbahn in der Kirche verdankte. Aber jetzt sah er in Aguirre zum ersten Mal einen alten Mann, der außerstande war, kühl und sachlich über
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