Das Blut der Unschuldigen: Thriller
sich alle Welt der armen Katharer für ihre Zwecke bedient: die Antiklerikalen, die Esoteriker, die Nationalisten und die Liberalen … Jeder deutet die Geschichte in seinem Sinne aus und glaubt, in den Katharern die Verkörperung seiner eigenen Überzeugungen zu entdecken. Ich kenne keinen Zeitabschnitt der Geschichte,
der in so übler Weise fehlgedeutet und missverstanden worden ist.«
»Sie sind eben kein Okzitanier«, hielt ihm der Anwalt vor.
»Das würde ich nicht sagen. Mein Vater stammt aus Perpignan und meine Mutter aus Toulouse, ich habe also durchaus eine gewisse Beziehung zu diesem Teil unseres Landes. Allerdings ist es mir ehrlich gesagt gleichgültig, woher ich stamme oder woher andere stammen, denn das kann sich niemand aussuchen. Mir kommt es eher darauf an, wo ich mich wohlfühle und mit wem ich zusammen bin. Wichtig sind mir Menschenwürde, Gerechtigkeit und Frieden.«
»Wollen Sie etwa auch bestreiten, dass wir Menschen in unserer jeweiligen Heimat verwurzelt sind?«, fragte von Trotta.
»Ich sehe keine Notwendigkeit, mich auf derlei zu berufen. Nicht unsere Abstammung ist wichtig, sondern ausschließlich das, was wir als Menschen zu leisten vermögen. An einem bestimmten Ort geboren zu werden, mag zwar die innersten Empfindungen beeinflussen, die auf Gerüche, Musik, Landschaft und dergleichen zurückgehen … aber auf keinen Fall möchte ich als Person durch etwas in dieser Art bestimmt werden.«
»Sie sind doch nicht etwa Kommunist?«, erkundigte sich Professor Marburg.
Arnaud zögerte mit seiner Antwort auf diese in unverschämtem Ton gestellte Frage, überlegte dann aber, dass es feige von ihm wäre, nichts darauf zu sagen.
»Ich bin Demokrat. Ich gehöre keiner Partei an.«
»Da haben Sie es, Graf!«, rief Marburg aus. »Es dürfte mir wirklich schwerfallen, mit Professor Arnaud zusammenzuarbeiten.«
D’Amis bedachte Marburg mit einem kalten Blick seiner
grünen Augen, bevor er sagte: »Mir geht es ausschließlich um seine fachliche Kompetenz.«
Der Anwalt schien etwas dazu sagen zu wollen, unterließ es dann aber. Er begriff nicht, warum der Graf unbedingt Arnaud auf seiner Seite haben wollte.
»Aber …«, setzte Professor Marburg an.
»Wir wollen uns nicht weiter darüber unterhalten. Ich möchte bei diesem Projekt auf Sie beide zählen können. Denken Sie, was Sie wollen, aber nutzen Sie Ihre Fähigkeiten und Ihr Wissen im Dienst der Geschichte.«
»Ich glaube, Sie haben mich nicht richtig verstanden«, wandte sich Arnaud in schneidendem Ton an den Grafen. »Ich habe nicht die geringste Absicht, an irgendeinem Projekt mitzuwirken, bei dem es um … um Hirngespinste geht. Ganz davon abgesehen fehlt mir auch die Zeit dazu. Meine Arbeit an der Hochschule nimmt mich vollständig in Anspruch. Sofern Sie mir das gestatten, werde ich mich gern näher mit Bruder Juliáns Chronik beschäftigen, darüber arbeiten und sie veröffentlichen … aber mit irgendwelchen anderen Projekten möchte ich nichts zu tun haben.«
»Wir sprechen noch darüber, Professor«, sagte der Graf beschwichtigend.
4
Zwar fuhr der Zug nach Paris erst um fünf Uhr nachmittags ab, doch fand Arnaud die Vorstellung unerträglich, länger in der Burg zu bleiben. Der Graf allerdings schien nicht gesonnen, ihn auch nur eine Minute früher als nötig gehen zu lassen.
Am Vormittag machte er ihm ein Angebot, dem Arnaud fast nachgegeben hätte.
»Wie wäre es, wenn Sie eine Geschichte über die Katharer schrieben? Eine neue Geschichte, die sich auf Bruder Juliáns Chronik stützt und dazu beiträgt, die Zweifel am Gral zu zerstreuen, auch wenn Sie überzeugt sind, dass all das auf Fantasie beruht. Versuchen Sie doch als Historiker die Wahrheit zu ergründen. Ich werde mit Ihrer Universität sprechen, damit man Sie für den nötigen Zeitraum freistellt. Selbstverständlich werde ich für alle Kosten im Zusammenhang mit dem Projekt aufkommen.«
Arnaud hatte, in erster Linie, um sich nicht unter Druck setzen zu lassen, gesagt, er werde gern über dies verlockende Angebot nachdenken. Anschließend hatte er Zuflucht in seinem Zimmer gesucht. Von den übrigen Gästen war außer dem Anwalt de Saint-Martin und Professor Marburg niemand zu sehen gewesen.
Raymond schlug David vor, noch einmal die Stallungen aufzusuchen.
»Warum hast du gestern nach den Nazis gefragt?«
»Darüber kann ich nicht sprechen«, gab Raymond zur Antwort.
»Wieso nicht?«
»Schlägt dein Vater dich?«
»Nein, nie! Er bestraft mich,
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