Das Blut der Unschuldigen: Thriller
aber geschlagen hat er mich noch nie. Und deiner?«
Schweigend tätschelte Raymond einer Fuchsstute die Flanke.
»Ich muss lernen, meine Verantwortung zu tragen. Und wenn ich das nicht gut mache, habe ich Strafe verdient.«
»Kommt darauf an, wie man dich bestraft.«
»Manche Menschen sind … anders. Sie gehören zu einer besonderen Rasse … und ich … na ja, ich auch, so wie mein Vater, seine Freunde und Maître de Saint-Martin … Bei dir weiß ich nicht … du und dein Vater, ihr seid wohl nicht …«
»Ich bin sehr stolz auf meinen Vater, unter anderem, weil er Demokrat ist«, sagte David verärgert, ohne daran zu denken, dass er mit einem Zehnjährigen sprach, einem Kind.
»Die Demokraten, die Sozialisten und die Kommunisten sind eine Pestbeule, genau wie die Juden«, sagte Raymond ernsthaft.
David hätte sich nicht tiefer verletzt fühlen können, wenn man ihn ins Gesicht geschlagen hätte. Sein Vater hatte ihm am Vorabend eingeschärft, allen Diskussionen mit diesen Menschen aus dem Weg zu gehen, aber jetzt wollte er mehr wissen. Raymond war als Einziger bereit, ihm Antworten zu geben, und hatte dabei das verfluchte Wort ›Jude‹ verwendet.
»Ich bin Jude«, gab David trotzig zur Antwort, »und ich bin keine Pestbeule.«
Raymond, der nicht wusste, was er sagen sollte, biss sich auf die Lippe und lief davon. Wieder war er vorlaut gewesen. Er hatte Angst vor der Bestrafung durch seinen Vater, denn
sein Hinterteil schmerzte noch von den Schlägen mit dem Gürtel, die dieser ihm am Vortag verabreicht hatte. Gerade als er durch eine Tür im Inneren der Burg verschwinden wollte, sah er Professor Marburg.
»Das sind Juden!«, rief er.
»Wer?«, erkundigte sich der Professor erregt.
»David und sein Vater. Er hat es mir selbst gesagt.« Bei diesen Worten wies er zu den Stallungen hinüber.
Professor Marburg ging mit ihm in die Burg und suchte den Grafen in seinem Arbeitszimmer auf. Er sah, dass auch der Anwalt anwesend war.
»Ihr Sohn hat mir eine entsetzliche Mitteilung gemacht.«
Er sagte das in einem so erregten Ton, dass die beiden Männer besorgt zu ihm hinsahen.
»Was gibt es denn? Raymond, was ist los?«
»Das sind Juden«, wiederholte der Junge. »David hat es mir gesagt.«
Graf d’Amis ballte die Fäuste im Versuch, seinen Ärger zu beherrschen.
»Das ändert die Sachlage«, sagte der Anwalt betont.
»Mit einem Drecksjuden werde ich nie zusammenarbeiten! Ich dulde nicht, dass so jemand in unsere Pläne eingeweiht wird … Ich hatte bereits einen gewissen Verdacht, als er uns so hartnäckig von der Suche nach dem Gral abbringen wollte!«, stieß Professor Marburg wütend hervor.
»Trotz allem wäre es ein Fehler, ihn nicht auf unsere Seite zu bringen. Sein früherer Lehrer an der Universität Toulouse hat mir nichts davon gesagt, dass er Jude sei …«, erklärte Graf d’Amis.
»Sein Sohn hat es aber Raymond gesagt…«, beharrte der Anwalt. »Da kann es also keinen Zweifel geben.«
Niemand hatte David kommen sehen, der jetzt mit wütendem und verächtlichem Blick in der Tür stand.
»Ich bin Jude, mein Vater nicht.«
Verblüfft über das plötzliche Auftauchen des jungen Mannes, sahen sie zu David hin. Wie lange mochte er dort gestanden und ihnen zugehört haben?
»Es gehört sich nicht, hinter der Tür zu lauschen«, brachte der Graf heraus. »Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand …«
»Ich habe nicht gelauscht. Die Tür stand offen, und ich muss auf dem Weg zu meinem Zimmer daran vorüber.«
»Wie auch immer, ein Herr hört nicht bei Gesprächen zu, die ihn nichts angehen. Da Sie es aber dennoch getan haben, können Sie auch hereinkommen«, gebot der Graf.
Zögernd folgte David der Aufforderung. Am liebsten wäre er davongerannt, um seinen Vater zu suchen, wagte aber nicht, sich dem Grafen zu widersetzen.
»Nehmen Sie Platz, junger Mann.«
Sowohl Raymond wie der Anwalt und Professor Marburg warteten gespannt darauf, wie es weitergehen sollte.
»Sicherlich wissen Sie, dass manche Menschen Juden mit Vorurteilen gegenüberstehen, weil sie meinen, dass sie an diesem und jenem die Schuld tragen. Mir kommt es nicht darauf an, was andere denken, sondern einzig und allein auf die Geschichte, und ich möchte, dass Ihr Vater an meinem Projekt mitwirkt. Es ist mir gleichgültig, ob er Jude ist oder nicht.«
Fast hätte David aufbegehrt und ihn als Lügner bezeichnet, doch ging ihm auf, dass er ihm so recht nichts vorwerfen konnte. Die herabsetzenden
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