Das Blut der Unsterblichen
Schnell versuchte sie, diese Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben. Auch wenn es das tiefste und reinste Begehren eines jeden Unsterblichen war, wollte sie auf keinem Fall einen unschuldigen Menschen töten. Die Unsterblichen waren von Natur aus Jäger, hatte ihr Daniel gesagt. Die Gier nach Blut konnte durch Blutkonserven gestillt, der Jagdinstinkt durch die Jagd auf ein Tier abgemildert werden, doch das tiefe, unüberwindbare Verlangen nach menschlichem Blut und der Jagd auf eben dieses, bestimmte ihr ganzes Dasein. Von Zeit zu Zeit wollte jeder Unsterbliche ein Jäger sein und kein domestiziertes Haustier. Daniel hatte ihr geraten, den Drang nicht zu stark werden zu lassen und mit ihrem Lehrer von Zeit zu Zeit auf die Jagd zu gehen, sonst liefe sie eines Tages in Gefahr, die Kontrolle zu verlieren. Kontrollverlust, so hatte er ihr eindringlich erklärt, sei die größte Gefahr für einen Unsterblichen. Kontrollverlust gefährde die sorgsam aufgebaute Tarnung, den Schutz, den die Unwissenheit der Sterblichen bot.
Die Worte hatten Leila beeindruckt und zum ersten Mal bekam sie eine Ahnung davon, dass an seinem Rat wirklich etwas dran sein könnte.
Tian unterbrach ihre Gedanken. „Woran denkst du?“
„An alles Mögliche. Ich will nicht darüber reden“, antwortete sie.
„Hasst du mich jetzt?“
Leila schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin enttäuscht, aber ich hasse dich nicht. Du warst in den letzten Tagen mein einziger Freund, ich muss es akzeptieren, dass du diesem Nahum die Wahrheit berichtest. Wahrscheinlich ändert es sowieso nichts, denn wie du bereits sagtest, gehe auch ich davon aus, dass meine Mutter bereits verwandelt ist.“ Sie sah ihn an. „Sei ehrlich, Tian, hast du dir nie gewünscht deine Mutter verwandeln zu können?“
Ein Ausdruck von Schmerz und Traurigkeit huschte über sein Gesicht. „Doch, natürlich, aber ich wusste, dass es verboten ist und im Gegensatz zu dir hätte ich es auch gar nicht gekonnt. Also bin ich aus ihrem Leben verschwunden, so wie es von einem Unsterblichen erwartet wird. Zu unserer eigenen Sicherheit müssen wir die Bindungen zu den Sterblichen lösen, Leila. Es mag schmerzhaft sein, doch es ist der Preis, den wir zahlen müssen.“
Erneut griff er nach ihrer Hand und diesmal zuckte sie nicht zurück. Es tat gut, an der Hand gehalten zu werden. Zum ersten Mal seit Tagen dachte sie wieder an Nico. Um diese Zeit saß er wahrscheinlich in der Schule. Ob er an sie dachte? Sie vielleicht sogar vermisste und sich fragte, wohin sie so plötzlich verschwunden war? Sie ergründete ihr Herz nach ihren Gefühlen für ihn und entdeckte, dass von ihrer Liebe nicht mehr viel übrig geblieben war. Die Ereignisse der letzten Woche hatten ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt und keinen Platz mehr gelassen für Nico. Ein wenig sehnte sie sich nach ihren Freundinnen, nach Musikhören und quatschen und sogar nach einem Einkaufsbummel. Doch Tian hatte recht, diese Zeiten waren vorbei. Sie wusste nicht, ob sie jemals wieder in ihre Heimatstadt zurückkehren würde oder ob sie das überhaupt wollte. Ihr altes Leben verblasste bereits zu einer fernen Erinnerung.
Weiter vorne sah sie Blanche Ridwells Haus. Bald würde sie wieder in dem muffigen Zimmer sitzen und auf den Abend warten, der hoffentlich einige Entscheidungen bringen würde.
Im Haus zog sie sich zurück und beschloss, ein wenig zu ruhen.
Als die Sonne hinter dem Horizont versank, stand sie auf und duschte sich. Ein Handtuch um den Körper geschlungen, lief sie zu dem klobigen Kleiderschrank, wo sie ihre Sachen verstaut hatte. Obwohl die Kleider nicht von ihr ausgesucht worden waren, entsprach das Meiste ihrem Geschmack. Sie überlegte, welche Kleidung für den abendlichen Anlass wohl angemessen war und entschied sich schließlich für eine schwarze Hose, dazu ein Gürtel in Schlangenlederoptik mit reich verzierter, goldener Schnalle sowie eine Bluse aus grüngestreiftem Seidensatin. Als sie sich im Spiegel betrachtete, war sie erstaunt, wie gut ihr die Sachen standen und sie begann zu verstehen, warum so viele Frauen gerne Kleider kaufen gingen.
Sie föhnte ihr Haar, trug ein wenig Wimpertusche auf, schlüpfte in schwarze Ballerinas und begab sich in den Salon. Blanche blickte ihr strahlend entgegen. „Leila, du siehst hinreißend aus. Nahum wird begeistert sein, wenn er dich sieht.“
Im selben Moment betrat Tian den Salon. Seine Augen verdunkelten sich, als er Leila erblickte.
„Tian hat angeboten, uns zu
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