Das Blut der Unsterblichen
zusammengekommen, um darüber zu entscheiden, wer diese Aufgabe übernehmen wird.“
Nahum hielt inne und lächelte freundlich, doch seine Augen durchbohrten sie.
„Habe ich ein Mitspracherecht?“, fragte Leila.
„Nein, leider nicht“, erwiderte Nahum.
Sie dachte daran, was sie in Blanches Haus gehört hatte. Dass sie wichtig war und mächtig. „Warum nicht? Was geschieht, wenn ich gar keinen Lehrer möchte?“
Nahum hob überrascht die Augenbrauen. Einige Unsterbliche gaben leise Laute des Missfallens von sich.
„Du bist selbstbewusst und furchtlos. Das gefällt mir. Ich selbst habe seit vierhundert Jahren keinen Schüler mehr ausgebildet, doch ich glaube, bei dir würde ich eine Ausnahme machen.“ Er wandte seinen Blick von ihr ab und sah zu den anderen Unsterblichen. „Hiermit stelle ich mich selbst als Lehrer von Leila, Tochter von Marcus del Casals, zur Verfügung.“
Die überraschende Ankündigung löste eine Welle der Empörung aus. Die Unsterblichen raunten und flüsterten und Daniel schnaubte verärgert. „Wenn du dich als ihr Lehrer anbietest, haben wir anderen doch keine Chance“, schimpfte er.
Nahum zeigte keine Reaktion auf die Gefühlsregungen der anderen, unbeeindruckt wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Leila zu. „Ich werde dir jetzt aufzählen, wer sich als Lehrer angeboten hat und du darfst entscheiden, welches Angebot du annehmen möchtest.“
Wieder ging ein Raunen durch die Reihen, gefolgt von leisem Aufbegehren.
„Wieso darf sie selbst entscheiden?“
„Das gab es noch nie.“
„Unerhört.“
Nahum hob seine Hand. Sofort trat Stille ein. „Natürlich möchte ich nicht, dass sich in diesem Fall irgendjemand benachteiligt fühlt“, sagte er. „Doch ich bitte euch zu bedenken, dass es hier nicht um irgendeinen Neuling geht, sondern um eine geborene Unsterbliche .“
„Aber was weiß sie denn schon, was das Beste für sie ist? Sie ist erst sechzehn“, warf Ernesto ein. „Wir sollten für sie entscheiden.“
Nahum betrachtete Leilas Gesicht, fixierte sie mit seinen schwarzen Augen. „Ich denke, sie weiß sehr genau, was sie will und was das Beste für sie ist.“
Ein scharfer Schmerz bohrte sich in ihren Kopf, begleitet von fremden Gedanken. Es fühlte sich an, als würde ihr Schädel zusammengepresst, während eine flüsternde Stimme in ihrem Kopf widerhallte, wie ein unendliches Echo. Sie versuchte, sich dagegen zu wehren, indem sie krampfhaft an etwas Belangloses dachte, doch sie konnte nicht verhindern, dass Nahum das sah, was sie so verzweifelt zu verbergen versuchte.
„Dein Vater hat es also geschafft“, stellte er fest. „Und du hast ihm gegeben, wonach er verlangt hat, denn immerhin ging es um deine Mutter, nicht wahr?“
Leila schluckte schwer und nickte. „Ja, ich habe es ihm gegeben.“
„Du weißt, dass du damit gegen unsere Gesetze verstoßen hast?“
Leila reckte trotzig das Kinn vor. „Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht offiziell in der Gemeinschaft aufgenommen, woher sollte ich also von den Gesetzen wissen? Außerdem lasse ich meine Mutter nicht sterben. Sie ist alles, was ich habe und ohne sie kann und will ich nicht leben. Ich möchte nicht zu euch gehören, wenn meine Mutter dafür sterben muss.“
Eine betretene Stille trat ein. Einige Unsterbliche warfen einander erboste Blicke zu. Nahum blickte Leila unverwandt an, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln. Sie hielt seinem Blick stand, auch wenn es ihr schwerfiel. Seine Augen waren so dunkel und unergründlich wie ein bodenloser Brunnen. Leila verlor sich in dieser unendlichen Tiefe, unfähig sich zu bewegen oder wegzusehen. Ihr Blickfeld verengte sich, ein heftiger Sog riss an ihren Gedanken, stahl sie aus ihrem Kopf. Verzweifelt stemmte sie sich dagegen, versuchte, ihre Erinnerungen und Gedanken vor dem reißenden Strudel zu bewahren. Sie schoss abwehrenden Gedanken gegen ihn wie Pfeile, doch Nahum wehrte sie mit Leichtigkeit ab und schleuderte sie zurück. Leilas Gesicht verzog sich vor Schmerz, als sie wie Peitschenhiebe gegen ihren Körper brandeten.
Dann löste er sich von ihr. Leila keuchte leise und kämpfte mit einem heftigen Schwindel. Nahum dagegen blickte entspannt. Der gedankliche Schlagabtausch, der sie so viel Kraft gekostet hatte, schien völlig spurlos an ihm vorübergegangen zu sein.
Die Unsterblichen hatten das geistige Gefecht fasziniert und zufrieden beobachtet, anscheinend hielten sie es für eine von Nahums Bestrafungen. Doch es war keine
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