Das Blut der Unsterblichen
hätte das für einen Sinn? Seine Beziehung mit einer Sterblichen war aufgeflogen, und den Kopf in den Sand zu stecken, verschlimmerte die Situation nur.
„Marcus, der Rat hat beschlossen, deinem Treiben ein Ende zu setzen“, begann Philippe. „Sie werden kommen und euch beide töten, wenn du nicht vernünftig wirst. Geh nach New York, sprich vor dem Rat und erkläre dich, nur so kannst du dich und vielleicht auch das Kind retten. Ist es denn wirklich von dir?“
„Ja, das ist es. Aber ich will auch Kristina in Sicherheit wissen. Sie weiß nicht, was ich bin, sie weiß nichts über unsere Welt. Ich werde sie ihnen nicht zum Fraß vorwerfen, um meine eigene Haut zu retten. Sie ist meine Seelenverwandte, Philippe.“
Philippe stieß einen Seufzer aus. „Habe ich dir nicht immer wieder gesagt, dass du, solltest du je deine Seelenverwandte finden, widerstehen musst, wenn es keine Unsterbliche ist? Du hättest dich ihr gleich offenbaren und sie dem Rat vorstellen müssen, nur so hättet ihr eine Chance gehabt. Aber du hast dich dafür entschieden, die Sache geheim zu halten, jetzt musst du die Konsequenzen tragen.“
Marcus schloss für einen Moment die Augen. „Es muss doch irgendetwas geben, was ich tun kann, Philippe. Du warst mein Lehrer und du bist mein Freund, bitte lass mich jetzt nicht im Stich.“
Einen kurzen Moment trat Stille ein.
„Du musst kommen und dich erklären. Das ist alles, was ich dir raten kann. Überzeuge Adalar davon, dass das Mädchen nichts weiß und schwöre, dass du sie niemals wiedersehen wirst. Wenn du Glück hast, wird der Rat sie am Leben lassen, damit sie das Kind großziehen kann. Ich werde mich für dich verwenden.“
Eine eisige Faust umklammerte Marcus’ Herz. „Was geschieht mit dem Kind?“
„Der Rat wird seine Entwicklung beobachten, bis feststeht, ob es dein genetisches Erbe in sich trägt. Doch mach dir keine Gedanken über Dinge, die noch in weiter Ferne liegen. Flieg so schnell wie möglich nach New York und erkläre dich.“
„Du hast recht“, sagte Marcus mit dumpfer Stimme. „Informiere die Ältesten darüber, dass ich die nötigen Vorbereitungen treffe und in wenigen Tagen ankommen werde.“
„Lass dir nicht zu viel Zeit. Sie sind ungeduldig. Du willst doch nicht riskieren, dass sie euch holen. Hast du verstanden, Marcus? Du musst dich beeilen !“
Die letzten Worte sprach Philippe mit eindringlicher Stimme und betonte jedes Wort. Wieder seufzte er tief. „Ich hoffe inständig, dass es noch nicht zu spät ist, für dich und für das Mädchen. Ich achte dich und schätze deine Loyalität, das weißt du, doch manchmal glaube ich, dass du allzu menschlich geblieben bist. Unsterbliche sind Opportunisten, keine Freidenker und auch keine Menschenfreunde.“
„Ich weiß, Philippe. Ich werde mich beeilen“, versprach Marcus. „Danke für deine Hilfe, mein Freund.“ Mit diesen Worten legte er den Hörer auf.
Tausend Gedanken schossen ihm auf einmal durch den Kopf. Er brauchte eine Weile, um sie zu sortieren und in Ruhe die nächsten Schritte zu planen. Er beschloss, Kristina eine Dienstreise vorzugaukeln. Da er ja tatsächlich nach New York fliegen würde, war dies die unauffälligste Lösung.
Sie sollte jedoch nicht glauben, dass er sie wenige Wochen vor der Geburt ihres Kindes verlassen hatte und auf die Idee kommen, ihn zu suchen. Aus diesem Grund würde er seinen Tod vortäuschen. Die Ratsmitglieder würden diese Vorgehensweise sicher befürworten.
Wer weiß , dachte er. Vielleicht werde ich tatsächlich sterben . Es konnte durchaus sein, dass der Rat Kristinas Leben nur um den Preis seines eigenen Lebens verschonen würde. Während er die Lüge seines Ablebens plante, verdrängte er den Gedanken daran, dass er sie anschließend niemals wiedersehen würde.
Nie wieder! Für Menschen bedeutete das im Höchstfall ein paar Jahrzehnte, doch für einen Unsterblichen bedeutete es Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende. Marcus barg seinen Kopf in den Händen und gab sich seinen tragischen Gedanken hin. Was bedeutete schon ewiges Leben ohne Liebe und Glück, ohne Familie und Freunde? Das war kein Leben, nur eine Existenz! Ein Dasein ohne Sinn, ausgerichtet auf den Blutdurst, den es unter allen Umständen zu stillen galt. Welche anderen Wesen auf dieser Erde waren derart nutzlos?
Er schluchzte trocken und wünschte sich, er könnte wenigstens weinen, den Schmerz hinauslassen, doch das war eines der vielen Dinge, die er nicht vermochte – weinen.
Weitere Kostenlose Bücher