Das Blut der Unsterblichen
Ihre Körper mochten schnell heilen, doch ihre Seelen trugen die Last schmerzhafter Erinnerungen Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte mit sich herum. Schon oft hatte er mit seiner Existenz gehadert. Seit die Freude über den vermeintlichen Segen der Unsterblichkeit der Realität gewichen war, litt er alle paar Jahrzehnte unter der Last seines Daseins. Bisher hatte er sich nach ein paar Jahren immer wieder davon befreien können, doch er bezweifelte, dass es ihm diesmal gelingen würde. Zu tief saß der Schmerz. Zu endgültig war die Einsamkeit, die auf ihn wartete.
Wie konnte er Kristina in die Augen schauen und lügen? Wie sollte es ihm gelingen, sie zu verlassen, ohne dem Drang nachzugeben, sich ihr zu offenbaren?
Tu es für das Leben deines ungeborenen Kindes und für Kristina , sagte er sich. Er musste stark sein, damit die Frau, die er liebte, weiterleben konnte.
Am Abend erzählte er Kristina von der überraschenden Dienstreise.
„Wie lange wirst du weg sein?“, fragte sie.
„Zehn Tage. Aber keine Angst, zur Geburt unseres Kindes bin ich wieder zurück“, erwiderte er.
Die Lüge kam ihm glatt von den Lippen, so als hätte sie schon immer auf seiner Zunge gelegen und nur darauf gewartet endlich ausgesprochen zu werden.
Kristina lächelte traurig. „Ich werde dich furchtbar vermissen. Zuvor bist du immer nur ein paar Tage weg gewesen“, sagte sie und schlang die Arme um seinen Hals.
Er legte die Hände an ihren Bauch und spürte den Herzschlag seines Kindes, die Wärme und Lebendigkeit des wachsenden Körpers.
„Du siehst so traurig aus“, stellte sie fest und strich ihm zärtlich über die Wange. „Muss ich dich jetzt etwa trösten? Es sind doch nur zehn Tage. Ich verspreche dir, dass ich mit der Geburt auf deine Rückkehr warten werde. Es dauert ja noch vier Wochen.“
Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie. Was würde er darum geben, könnte er sie für immer in seinen Armen halten. Während er sie küsste, dirigierte er sie in das Schlafzimmer. Dies würde ihre letzte gemeinsame Nacht sein und er wollte keine Sekunde davon verschwenden. Langsam zog er sie aus, betrachtete sie im flackernden Kerzenlicht. Seine Finger strichen zärtlich über ihren Bauch. Das Baby bewegte sich und er küsste die Stelle, wo sich die Bauchdecke wölbte.
Kristina beobachtete ihn nachdenklich. „Du machst mich wahnsinnig glücklich, Marcus. Seit du in mein Leben getreten bist, fühle ich mich vollständig, weißt du das?“
„Mir geht es ebenso“, erwiderte er.
„Warum heiraten wir dann nicht?“, fragte sie unvermittelt.
Marcus erstarrte. „War das so etwas wie ein schlecht geplanter Antrag?“
Sie zuckte mit den Schultern, wirkte plötzlich befangen. „Entschuldige. Ich muss verrückt sein, so etwas zu fragen.“
Er betrachtete sie schweigend. „Nichts täte ich lieber, als dich zu heiraten“, antwortete er dann ernst. Er nahm ihre Hand und strich über ihre Finger. „Ich habe keinen Ring für dich, aber ich verspreche dir, dass du einen bekommst.“
Sie winkte ab. „Schon okay, ich wollte dich nicht unter Druck setzen.“
„Das tust du nicht. Ich hätte dich schon längst um deine Hand bitten müssen.“
Sie setzte zu einer Erwiderung an, doch er legte seinen Zeigefinger an ihre Lippen und brachte sie zum Schweigen. „Nicht aus Pflichtgefühl heraus oder weil du schwanger bist“, sagte er. „Sondern weil ich dich über alle Maßen liebe, Kristina. Ich will mein Leben mit dir verbringen und das ist die reine Wahrheit.“
In dieser Nacht liebten sie sich langsam und hingebungsvoll. Er wollte sie schmecken, einen letzten Tropfen ihres Blutes kosten. So vorsichtig wie möglich ritzte er die Haut an ihrem Schlüsselbein an und leckte die hervorquellenden Tropfen ab. Welch köstlicher Geschmack, er wollte ihn in Erinnerung behalten. Jedes Detail würde er sich merken. Den Klang ihrer Stimme, wie sie schmeckte, wie so duftete, wie sie lächelte, wie sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr klemmte, wenn sie an ihrer Staffelei saß und malte.
Er betrachtete sie die ganze Nacht, während sie schlief und die Zeit dahinrauschte wie ein reißender Fluss. Stunden flogen vorbei wie Minuten. Als der Morgen graute, stand er auf und blickte in die aufgehende Sonne. Wie er sie hasste, diese Sonne. Sie erinnerte ihn daran, was er war, und dass sich seine Zeit mit Kristina endgültig dem Ende neigte. In wenigen Stunden würden sie sich auf den Weg zum Flughafen machen.
Er wollte sie nicht wecken und
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