Das Blut der Unsterblichen
dich geweckt habe Pia. Ich lass’ dich jetzt weiterschlafen.“
„Kein Problem, wenn du Lust hast, komm doch nachher vorbei. Wir gehen ein Stück spazieren und quatschen“, schlug sie vor.
„Ist Paul bei dir?“, fragte Kristina.
„Ja, wieso?“
„Sei mir nicht böse, aber das Letzte, was ich jetzt brauche, ist, den Tag mit zwei Verliebten zu verbringen.“
„Ach Kristina, das ist lächerlich. Du tust ja so, als wärest du verlassen worden. Marcus ist auf Dienstreise, ich verstehe nicht, was daran so dramatisch ist. Okay, du bist hochschwanger, aber du musst dich echt beruhigen, bevor du noch vorzeitige Wehen bekommst.“
Kristina kam sich plötzlich lächerlich vor. Wie konnte sie von Pia Verständnis für ihre Gefühle erwarten? Dafür war ihre Freundin viel zu pragmatisch. Und sie kannte Marcus nicht so, wie sie ihn kannte. Wusste nicht, dass er ständig anrief, und sei es nur, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Dass sie manchmal am Telefon schwiegen, nur um einander atmen zu hören. Dass sie aussprachen, was der andere dachte.
„Ich weiß. Ich werde mich zusammenreißen. Das liegt wahrscheinlich an den Hormonen. Ich lass dich jetzt weiterschlafen. Wir telefonieren später noch mal, ja?“ Plötzlich hatte sie es eilig, Pia loszuwerden.
„In Ordnung, bis später“, sagte Pia.
„Ja, bis dann.“
Nach dem Anruf fühlte sie sich kein bisschen besser. Pia konnte ihre Ängste nicht verstehen, niemand konnte das. Alle würden es nur auf die Schwangerschaft schieben.
Aber sie werden ja sehen , dachte Kristina. Sie hoffte inständig, dass sie ihre Gefühle trogen, dass es wirklich nur die Schwangerschaft war, die sie so panisch machte. Aber tief in ihrem Inneren, so tief, dass es kaum wahrnehmbar an ihr bewusstes Selbst heranreichte, spürte sie, dass sie recht hatte. Etwas stimmte nicht. Etwas war geschehen.
Der Tag verging, ohne einen Anruf von Marcus. Kristina wurde immer verzweifelter. In der Nacht wälzte sie sich im Bett herum und fiel nur sporadisch in einen unruhigen Schlaf. Ein neuer Tag brach an, ohne dass das Telefon klingelte. Stumm und kalt stand es da. Die Stunden tröpfelten dahin, während sich das Telefon stur weigerte, ihr ein Lebenszeichen von Marcus zu übermitteln. Warum klingelte es nicht?
Die Verzweiflung wurde ihr ständiger Begleiter. Mittlerweile klangen sogar die Beruhigungsversuche ihrer Freundinnen fadenscheinig und leer.
Die folgende Nacht verging ebenso ereignislos wie die Vorhergehende, und auch der anbrechende Tag versprach keine Besserung. Stunde um Stunde um Stunde verging. Auf Tag folgte Nacht, und wieder ein Tag. Mittlerweile hasste sie das Telefon. Sie wollte es am liebsten an die Wand werfen und wegrennen, und doch war sie an ihre Wohnung gefesselt. Eingesperrt mit der Hoffnung auf den erlösenden Anruf. Einer Entschuldigung, einer Erklärung, egal, hauptsache seine Stimme.
Sie dachte an den Abschied am Flughafen zurück. Es hatte einen Moment gegeben, einen Augenblick der Unsicherheit, der das Gefühl in ihr geweckt hatte, dass dies mehr war, als ein Abschied auf Zeit. Leb wohl, hatte er gesagt und nicht auf Wiedersehen . Er hatte sie angesehen, mit diesem tieftraurigen Blick und dem eingefrorenen Lächeln. Hatte das eine Bedeutung?
Immer wieder wählte sie die Telefonnummer, die Marcus ihr vor seiner Abreise gegeben hatte, doch nur die unpersönliche Computerstimme eines Anrufbeantworters antwortete.
Der Tag verging. Und noch eine Nacht.
Um ihrer verzweifelten Untätigkeit zu entfliehen, fuhr sie zu seiner Wohnung und klingelte an der Haustür. Sie stellte sich vor, wie sie reagieren würde, wenn er jetzt öffnen würde, doch natürlich öffnete niemand. Sie presste das Ohr an die Tür und lauschte. Alles blieb still. Traurig machte sie sich auf den Heimweg. Natürlich hatte sie nicht ernsthaft erwartet, ihn Zuhause vorzufinden, trotzdem war sie enttäuscht. So verging dieser Tag fast ebenso ereignislos wie die vorhergehenden und wurde abgelöst von einer endlosen Nacht. Die Tage reduzierten sich auf eine unendliche Abfolge von Stunden, Minuten und Sekunden. Sie gab die Hoffnung in ihr Telefon auf. Was blieb, war die Hoffnung auf das Ende der zehn Tage. Vielleicht würde er zurückkommen und einfach vor ihrer Tür stehen. Vielleicht war die gesamte Übersee Telekommunikation zusammengebrochen. Sie gab sich allen möglichen abwegigen Erklärungen hin, nur um die Tage zu überstehen. Das Ende der zehn Tage war der einzige Lichtblick, der ihr
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