Das Blut der Unsterblichen
auf die einzige Art, die ihr vertraut war. Sie überredete Kristina dazu, Leila in Tanias Obhut zu geben, und mit ihr in eine Diskothek zu gehen. Alles in Kristina wehrte sich gegen dieses Vorhaben, doch wie üblich duldete Pia keine Widerrede. Sie war überzeugt davon, dass ein Diskothekenbesuch Kristinas zerbrochene Seele auf wundersame Weise heilen würde. Doch wie sie befürchtet hatte, war der Abend ein Fiasko. Sobald sie die Diskothek betrat, fühlte sie sich, als wäre sie schon jahrzehntelang nicht mehr unter Menschen gewesen und hätte sich dieser Welt für immer entfremdet. Die laute Musik, das zuckende Licht und das Gedränge verunsicherten sie. Jeder schien sie anzustarren und sich zu fragen, was sie hier zu suchen hatte. Sie fühlte sich entblößt und wund. Mit schmerzhafter Klarheit erkannte sie, dass sie eine Fremde geworden war, in diesem Universum der Oberflächlichkeiten, und dass ihr altes Leben unwiederbringlich verloren war. Welches Leben auch immer vor ihr lag, es würde ein komplett anderes sein.
„Es gibt jede Menge alleinerziehende Mütter und du bist noch jung. Du wirst einen neuen Mann finden“, sagte Pia.
Nein, werde ich nicht , war die Antwort, die auf ihren Lippen lag, doch sie sprach sie nie aus. Sie mochte jung an Jahren sein, doch sie fühlte sich wie eine alte Frau. Müde und verbraucht. Zudem konnte sie kein Leben wieder aufnehmen, welches vorbei war. Die Kristina, die ihre Freundinnen einst kannten, war mit Marcus gestorben.
Fast jede Nacht träumte sie von ihm. Manchmal sah sie ihn sterben und manchmal hielt sie ihn am Flughafen davon ab, nach New York zu fliegen. Einmal sprach sie mit ihm und dieser Traum war so real, dass sie sich nach dem Aufwachen nicht sicher war, ob dies wirklich nur ein Traum gewesen war, oder ob Marcus vielleicht aus dem Jenseits mit ihr gesprochen hatte.
Als sie in jener Nacht schluchzend erwachte, fand sie ihre Wangen und das Kissen nass von ihren Tränen.
Manchmal saß sie stundenlang in dem Schaukelstuhl, Leila auf dem Arm und starrte ins Leere. Wenn jemand anrief oder sie besuchte, hörte sie zwar zu, doch im Grunde interessierte sie sich nicht mehr für die Dinge außerhalb ihrer vier Wände. Wenn sie einkaufen ging, schlurfte sie wie eine Schlafwandlerin durch die Gänge, kaum in der Lage zu entscheiden, was sie an Lebensmitteln benötigte. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie mit dem Einkaufswagen einfach stehen blieb und die Menschen um sich herum anstarrte. Sie kam sich vor, als würde sie einer anderen Spezies angehören, wie ein dunkler Fleck in einer hellen Welt.
Sie begann, die Wochenenden zu hassen. An den Wochenenden waren die Paare mit ihren Kindern unterwegs. Sie musste mit ansehen, wie Väter Kinderwägen schoben, wie sie mit ihrem Nachwuchs Fahrrad fuhren, einkaufen gingen oder den Hund ausführten. An den Wochenenden hatte keine ihrer Freundinnen Zeit, da sie mittlerweile fast alle in festen Händen waren. Kristina hätte sich den Paaren zwar anschließen können, doch war das so ziemlich das Letzte, was sie wollte. Also setzte sie sich in den Schaukelstuhl, ihr heimliches Rettungsboot, und starrte vor sich hin.
Unentwegt dachte sie an Marcus. Sein Tod reihte sich nahtlos in ihre Familiengeschichte ein, in der nur Wenige das natürliche Ende ihres Lebens erreicht hatten. Ihre Eltern waren beide jung gestorben. Ihre Mutter an den Folgen eines Kaiserschnitts nach der Geburt ihres kleinen Bruders. Dieser überlebte seine Mutter nur um wenige Tage, denn er kam mit einem schweren Herzfehler zur Welt. Nach dem Unfalltod ihres Vaters drei Jahre später wuchs Kristina bei ihren Großeltern auf. Fünf Jahre zuvor war ihre Oma nach einem Schlaganfall gestorben. Ihr Opa, der den Tod seiner Frau nie hatte verwinden können, beging wenige Wochen, bevor sie Marcus kennengelernt hatte, Selbstmord. Er hatte den Gashahn seines Herdes aufgedreht. Ihren Großeltern väterlicherseits hatte sie nie besonders nahegestanden. Ihr Opa war gestorben, als sie noch ein Baby gewesen war und ihre Oma war an Alzheimer erkrankt. Sie lebte in einem Pflegeheim und erkannte ihre Enkelin nur an guten Tagen. Der Tod folgte Kristina, schon ihr ganzes Leben lang, und mit plötzlicher Klarheit erkannte sie, dass sie ihm nicht entfliehen konnte, so sehr sie es auch versuchte.
Dreieinhalb Monate nach Leilas Geburt steckte ein großer, blauweißer Umschlag in ihrem Briefkasten. Überrascht zog sie ihn heraus und betrachtete ihn. In ihrer Trauer hatte sie die
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