Das Blut der Unsterblichen
ihre Wangen blutverschmiert. Übelkeit stieg in Leila empor. Nun ergriff ihr Vater den anderen Arm, senkte seine Lippen auf ihre Haut und biss ebenfalls zu.
Leila schrie auf. Verstört blickte sie auf die Wände ihres Zimmers. Einen Moment lang war sie so verwirrt, dass sie noch immer die Frau zu sehen glaubte, die wie eine geisterhafte Erscheinung in ihrem Zimmer schwebte. Sie atmete schnell und stoßweise, während sie auf die Schritte ihrer Mutter lauschte. Doch es blieb still. Ausnahmsweise schien sie ihren Schrei nicht gehört zu haben.
Vorsichtig schob sie sich aus dem Bett, schlich auf wackeligen Beinen in die Küche und kochte sich einen Kräutertee. Das nächtliche Haus war ihr auf einmal unheimlich und sie huschte schnell wieder in ihr Zimmer zurück. Dort trank sie den Tee und wartete darauf, dass sich die beruhigende Wirkung der Kräuter entfaltete. Wohltuende Wärme floss ihre Kehle hinab.
Warum träumte sie immer wieder von Blut, von scharfen Zähnen, vom Tod und ihrem Vater? Hingen die Träume in irgendeiner Weise mit ihren körperlichen Veränderungen zusammen? Etwas sagte ihr, dass ihr Vater der Schlüssel war. Sie wickelte eine Haarsträhne um den Finger und grübelte darüber nach, wann die Veränderungen und die Träume begonnen hatten. Es gelang ihr nicht, den genauen Tag oder auch nur den Monat oder das Jahr zu bestimmen. Bei näherer Betrachtung schien es fast, als wäre ihre Andersartigkeit schon immer ein Teil von ihr gewesen, unterschwellig zwar, doch eindeutig vorhanden. Verschüttete Erinnerungen schoben sich in ihr Bewusstsein, leuchteten auf wie gleißende Blitze in der Nacht.
Sie war im Kindergarten und wollte mit den Jungs in der Bauecke spielen. Doch die Jungs wollten kein Mädchen in ihrer Mitte. Justin, ein Fünfjähriger von der Größe eines Siebenjährigen, stand auf.
„Hau ab“, sagte er und schubste Leila. Sie fiel nach hinten und landete schmerzhaft auf dem Po. Sie presste trotzig die Lippen zusammen, wollte nicht weinen. Nicht vor dem blöden Justin, der über ihr stand und sie auslachte. Schnell rappelte sie sich wieder auf, trat auf ihn zu und schubste ihn wütend. Doch im Gegensatz zu ihr fiel er nicht einfach um. Er flog in hohem Bogen nach hinten und landete mitten in dem Turm aus Holzbauklötzen, an dessen Bau sie sich so gerne beteiligt hätte. Mit lautem Gepolter stürzte der Turm in sich zusammen. Justin lag inmitten der Bauklötze und weinte, während die anderen Kinder entrüstet nach der Erzieherin riefen.
Ein paar Jahre später. Leila war neun Jahre alt. Ihre Mutter rannte hektisch in der Wohnung herum und suchte verzweifelt nach ihrem Autoschlüssel. Sie waren spät dran. Leila musste schon längst in die Schule sein und ihre Mutter an der Arbeit. Ungeduldig saß Leila im Wohnzimmer auf dem Sofa und wartete. Ihr Blick fiel durch die geöffnete Tür auf den Korb mit Schmutzwäsche, der auf einem Hocker im Flur stand. Zwischen den Löchern blitzte etwas hervor. Leila betrachtete es, holte es wie mit einem Fernglas ganz nah heran und entdeckte ein Stück von dem herzförmigen Schlüsselanhänger. Sie rief ihre Mutter und deutete auf den Korb.
„So ein Quatsch, Leila. Wie soll der Schlüssel denn im Wäschekorb gelandet sein?“, sagte sie. Trotzdem sah sie nach. Erstaunt zog sie den Schlüssel aus dem Wäschewust, stemmte die Arme in die Hüfte und bedachte Leila mit einem vorwurfsvollen Blick. „Hast du ihn da versteckt?“
„Nein, ich hab’ ihn gesehen“, antwortete Leila. Ihre Mutter runzelte ungläubig die Stirn. Doch die Zeit war knapp und der Schlüssel war wieder da, also ging sie nicht näher auf darauf ein.
Leila war fünfzehn und stand mit Thea in der Küche und kochte. Thea schnippelte unbeholfen an einer Karotte herum und versuchte kichernd, die Schneidetechnik der Fernsehköche zu imitieren. Leila bat Thea darum, vorsichtig zu sein. Die Messer waren neu und sehr scharf. Doch ihre Warnung kam zu spät, denn im selben Moment schnitt Thea sich in den Zeigefinger. Die Wunde blutete stark, rote Tropfen fielen auf das Schneidebrett. Wie gebannt starrte Leila auf das auslaufende Blut, unfähig ihren Blick abzuwenden. Und sie sah das Blut nicht nur, sie roch es auch. Wie ein schweres Parfüm wehte der Duft um ihre Nase und hüllte sie ein. Es roch … lecker. Erst Theas hysterisches Geschrei holte sie in die Wirklichkeit zurück.
Ihre Andersartigkeit war schon immer da gewesen, auch wenn sie es bis vor einem Jahr nicht bewusst wahrgenommen
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