Das Blut der Unsterblichen
einen selbstbewussten Klang zu geben. Die Gestalt blieb ebenfalls stehen.
„Hören Sie, das ist nicht witzig. Verschwinden Sie!“
Unauffällig ließ sie ihre Augen über den Waldboden gleiten, auf der Suche nach einem Ast, den sie sich schnappen könnte, falls der Unbekannte sich näherte. Die Gestalt bewegte sich auf sie zu. Kristina wich zurück. Sie erwog, einfach loszurennen und um Hilfe zu rufen, doch ihre Beine waren wie festgewachsen.
„Verdammt“, sie drehte sich um und zwang ihr Füße zu einem Schritt.
„Kristina“, rief der Unbekannte.
Kristina hielt inne. Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihr Herz trommelte gegen den Brustkorb. Ein seltsames Kribbeln zog durch ihren Körper. Sie streckte den Kopf ein wenig vor und kniff die Augen zusammen. Warum nur setzte sie nie ihre Brille auf? „Wer sind sie?“
In der Ferne bellte ein Hund dicht gefolgt von einem lauten Pfiff. Jemand kam den Waldweg entlang. Im selben Moment drehte sich der Unbekannte um und verschwand. Er verschwand im Bruchteil einer Sekunde, so schnell, als wäre er unsichtbar geworden.
Perplex starrte Kristina auf die Stelle, wo er eben noch gestanden hatte. Dann atmete sie erleichtert auf. Doch da war noch ein anderes Gefühl, verborgen hinter Angst und Erleichterung. Enttäuschung. Sie schüttelte den Kopf. Enttäuschung ? Lächerlich! Sie war nur knapp einem irren Stalker oder einem Vergewaltiger entronnen, wie konnte sie da enttäuscht sein? Der Fremde hatte ihren Namen gerufen, folglich kannte er sie. Aber wer war es und wieso hatte er sie verfolgt?
Im Eiltempo joggte sie zu nach Hause zurück und duschte sich ausgiebig. Anschließend fühlte sie sich erfrischt und energiegeladen und beschloss, Nicos Mutter anzurufen und sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Leila hatte dies bisher nicht für nötig gehalten. Außerdem würde sie das Telefonat von dem Geschehen im Wald ablenken. Seit sie nach Hause gekommen war, dachte sie unentwegt über diese seltsame Begegnung nach. Doch in Grübeleien über geheimnisvolle Unbekannte zu versinken war so ziemlich das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
Sie streifte eine bequeme Jeans und ein einfaches, schwarzes Sweatshirt über. Anschließend lief sie in die Küche und bereitete sich einen Tee, als das Telefon klingelte. Schnell goss sie das Wasser auf und hetzte in das Wohnzimmer.
Auf dem Display stand unbekannte Nummer . Sie seufzte. Anrufe mit unbekannter Nummer brachten selten etwas Gutes.
Genervt hob sie ab. „Hallo?“
Einen Moment lang herrschte Stille. Kristina rollte mit den Augen. Wieder einer dieser komischen Anrufe. Schon ließ sie den Hörer sinken.
„Kristina?“
Schnell presste sie den Hörer an das Ohr zurück. „Ja?“
„Hier ist Marcus!“
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Ein riesiger Felsbrocken sackte in ihren Bauch. „Wer?“
„Bitte leg nicht auf, hör mich erst an, okay?“
Plötzlich hatte sie Probleme mit dem Atmen. „Wer sind Sie?“
Sie dachte an die Gestalt, die sie am Morgen gesehen hatte und bevor sie eine Antwort auf ihre Frage bekam, in diesem flüchtigen Augenblick zwischen ihrer Überlegung und der Stimme, die ihr antwortete, wusste sie es. Sie wusste, wem diese Stimme, diese Stimme , die ihr nach so langer Zeit noch immer vertraut war, gehörte. Sie hielt den Atem an.
„Ich bin es, Marcus …“
Ihr Herz glaubte es sofort. Ihr Herz hatte es schon geglaubt, als es seine Stimme vernommen hatte, doch ihr Verstand weigerte sich, das Unvorstellbare zu erkennen.
„Was? Welcher Marcus? Sie müssen sich verwählt haben“, erwiderte sie.
„Kristina, bitte. Ich bin es wirklich. Der Vater deiner Tochter.“
Die Wucht dieser Worte riss sie von den Füßen. Hilflos sackte sie zu Boden. „Wer auch immer Sie sind, verarschen Sie mich nicht. Das ist nicht lustig“, presste sie mühsam beherrscht hervor.
„Du weißt, dass ich es bin, Kristina. Ich spüre, dass du es weißt.“
Die Welt um sie herum verschwamm. Wie von selbst wanderte ihr Daumen auf das Tastenfeld des Telefons. Sie legte auf, warf den Hörer von sich wie ein ekliges Getier. Ihr Gehirn klopfte und pulsierte gegen ihre Schädeldecke. Etwas Schweres, Erstickendes legte sich auf ihre Brust. Keuchend sog sie die Luft ein. Atmen, immer weiter atmen. Und plötzlich war sie nicht mehr in der Lage, irgendetwas anderes zu tun, als zu weinen. Sie weinte um ihre Tochter, um ihr Leben, um ihre tote Familie und um Marcus. Sie weinte vor Kummer, vor Angst, vor Schmerz. Die
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