Das Blut der Unsterblichen
sicher?“, schluchzte Leila.
Kristina nickte. „Hundertprozentig, du bist intelligent, ehrlich und sensibel aber keinesfalls verrückt. Ich finde, du solltest eine Nacht über alles schlafen. Morgen sprechen wir noch einmal in Ruhe darüber. Ich werde zwischenzeitlich im Internet recherchieren, was es mit deinen Talenten auf sich haben könnte, okay?“
Leila sah überrascht auf. Das Internet! Natürlich! Da hätte sie auch selbst drauf kommen können. Vielleicht wäre ihr dann einiger Kummer erspart geblieben.
„Ach und noch was“, fügte Kristina hinzu. „Das hast du richtig gemacht.“
„Was?“
„Die Sache mit Nico. Lass dich von ihm auf keinem Fall zu etwas drängen, wozu du nicht bereit bist. Es ist ganz alleine deine Entscheidung. Wenn er nicht warten kann, dann ist er es auch nicht wert. So schmerzhaft diese Erkenntnis auch ist. Besser ein Ende mit Schrecken, als …“
„… als ein Schrecken ohne Ende, ich weiß, Mama“, beendete Leila den Satz. Sie lächelte traurig. Kristina drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich liebe dich, meine wunderschöne Tochter“, flüsterte sie zärtlich. „Und jetzt ruh dich aus, wir reden morgen weiter.“
„Okay, ich hab dich lieb.“
Kristina lief zur Tür. „Gute Nacht, Schatz.“
„Gute Nacht“, antwortete Leila.
15
Kristina lag die halbe Nacht wach und dachte über die Dinge nach, die Leila ihr unter Tränen anvertraut hatte. Noch immer hatte sie weder etwas über Marcus noch über seine Herkunft herausgefunden und auch die Friedhofsverwaltung und die Krankenhäuser waren keine Hilfe gewesen. Nach Leilas Beichte erschien es ihr jedoch umso dringlicher, Genaueres über die Abstammung ihrer Tochter zu erfahren. Vielleicht sollte sie alle Ersparnisse zusammenkratzen, nach New York fliegen und vor Ort ihre Ermittlungen weiterführen. Ein Besuch bei Marcus’ ehemaligem Arbeitgeber wäre sicher ein hilfreicher Anfang. Sie rieb sich über die Stirn und seufzte. Die letzten Tage waren aufreibend gewesen und sie verspürte das dringende Bedürfnis, sich von dem inneren Druck zu befreien. Ein ausgiebiger Waldlauf würde ihr guttun.
Kaum hatte Leila am nächsten Morgen das Haus verlassen, zog sie ihre Sportsachen an. Sie liebte es, frühmorgens durch den Wald zu laufen, wenn er noch still war und rein. Ohne lästige Menschen, die ihren Weg kreuzten. Die Sonne, die sich noch hinter den Bäumen verbarg, und der Herbstnebel beschränkten ihre Sicht auf wenige Meter. Doch das machte ihr nichts aus, sie kannte die Laufstrecke in und auswendig. Sie atmete tief durch, spürte, wie sich ihre Lungen mit der frischen Morgenluft füllten, und rannte los. Immer wieder schloss sie für einen Moment die Augen, lauschte den Geräuschen des Waldes und dem dumpfen Klopfen ihrer Füße auf dem weichen Boden. Mit jedem Schritt, den sie lief, löste sich die Anspannung der letzten Tage und ihre Kraftreserven füllten sich.
Sie war die Hälfte ihrer üblichen Strecke gelaufen, als sie plötzlich nicht nur das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Blätter hörte, sondern auch ein immer wiederkehrendes Rascheln und Knacken zu ihrer Rechten. Sie sah sich um, war aber wegen des Nebels nicht in der Lage, das Geräusch zu lokalisieren. Mal schien es ganz nah zu sein, dann wieder weiter weg, aber es war nie völlig verschwunden. Verunsichert blieb sie stehen und suchte die Umgebung ab. Das Geräusch verschwand. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas zu erkennen. Alles lag in verschwommenem Dunst. Hatte sie jemals so dichten Nebel im Wald gesehen? Sie beschloss, weiterzulaufen, als sie aus dem Augenwinkel etwas zu sehen glaubte. Ein menschlicher Schatten schälte sich aus dem Zwielicht und verharrte zwischen den Bäumen. Kristinas Herz schlug aufgeregt. Die Gestalt bewegte sich nicht, stand so still, als wäre sie Teil des Waldes.
Er beobachtet mich . Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Ein Anflug von Panik und der Drang, wegzulaufen, überfiel sie.
„Wer sind Sie?“, rief sie in den Wald hinein.
Die Gestalt antwortete nicht, stand nur regungslos da und starrte auf sie hinab.
Kristina wandte sich ab und lief weiter. Immer schneller spurtete sie den Waldweg entlang, bis sie fast rannte. Die Gestalt folgte ihr. Behände huschte sie durch das Unterholz, sprang leichtfüßig über Wurzeln, Laub und loses Geäst.
Kurz entschlossen blieb Kristina stehen und stemmte die Arme in die Hüfte. „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“
Sie versuchte, ihrer Stimme
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