Das Blut der Unsterblichen
ungeweinten Tränen eines halben Lebens sprudelten aus ihr heraus.
Undeutlich hörte sie, wie das Telefon klingelte. Klingelte und klingelte. Sie ignorierte den Laut, anfänglich noch unbewusst, doch der andauernde Klingelton bahnte sich langsam aber sicher einen Weg in ihr Bewusstsein. Für einen Moment dachte sie daran, den Anrufbeantworter einzuschalten oder den Stecker zu ziehen. Sie wollte sich nicht dem stellen, was mit diesem Anruf auf sie zukam. Nicht heute, nicht jetzt. Sie wollte nicht das Ödland ihrer Seele mit Schmerz und Chaos füllen und dorthin zurückkehren, wo sie vor siebzehn Jahren angefangen hatte. Außerdem war es völlig abwegig, dass Marcus wirklich der Anrufer war. Er war tot. Seine Asche lag in irgendeinem namenlosen Grab auf einem Friedhof in New York.
Sie atmete tief durch. Langsam gewann die Vernunft wieder die Oberhand. Es konnte unmöglich Marcus sein. Wer auch immer da anrief, erlaubte sich einen makabren Scherz.
Sie rappelte sich auf, ging zum Sofa und starrte auf das Telefon, das auf der Sitzfläche lag und klingelte. Ihre Hände zitterten, als sie nach dem Hörer griff und das Gespräch entgegen nahm. „Ja?“
„Kristina, ich beschwöre dich, bitte leg nicht auf!“
„Wer ist da?“, fragte sie erneut. Wie idiotisch von mir . A ls wüsste ich nicht genau, wer da ist. Und er wusste, dass sie es wusste.
„Ich muss dich sehen, wir müssen dringend reden. Es geht um Leila. Wann kann ich vorbeikommen?“
„Wer sind Sie?“
„Ich weiß, das ist jetzt sehr schwer für dich, aber leider kann ich dir keine Zeit zum Nachdenken geben. Wir müssen uns treffen. Konzentriere dich auf meine Worte Kristina. W ann können wir uns treffen ?“
„Ich … ich weiß nicht.“ Es gelang ihr nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
„Wenn du mir keine Uhrzeit nennst, dann komme ich einfach vorbei und bleibe solange vor deiner Haustür stehen, bis du öffnest“, drohte er.
„Heute noch?“ Die Worte kamen nur schleppend aus ihrem Mund.
„Ja, heute noch. Bitte !“
Kristina antwortete nicht. Was sollte sie auch sagen? Was bedeutete schon die Uhrzeit, jetzt, wo die Zeit stehen geblieben zu sein schien? Das war kein Scherz, das war definitiv Marcus’ Stimme!
„Mir ist es egal, schlag du etwas vor“, sagte sie nur.
„Wenn es dir recht ist, komme ich in einer Stunde, dann haben wir genug Zeit zum Reden“, schlug er vor.
„In Ordnung.“
„Beruhige dich, ich werde dir alles erklären, okay?“
„Okay.“
Sie legte auf, sank auf das Sofa und starrte auf den Telefonhörer in ihrer Hand. Marcus würde kommen, in einer Stunde. Marcus war am Leben ! Er hatte seinen Tod nur vorgetäuscht! Schlagartig wurde ihr die Ungeheuerlichkeit dessen bewusst. Schon immer hatte sie das Gefühl gehabt, dass er eines Tages einfach vor ihrer Tür stehen würde, doch sie hatte diese Gefühle darauf geschoben, dass sie nicht hatte Abschied nehmen können. Nicht einmal seine Grabstätte hatte sie besuchen können. Er war einfach so aus ihrem Leben verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Doch er lebte und wenn er nicht gestorben war, dann musste sie sich der Tatsache stellen, dass er sie auf schändliche Weise hintergangen hatte. Warum hatte er das getan?
Kristina stürzte in ein Gefühlschaos aus Freude, Wut, Trauer und Unsicherheit. Sie warf einen Blick zur Uhr. Nur noch dreißig Minuten. Sie beschloss, sich zu schminken und kam sich gleichzeitig lächerlich vor, als sie das tat. Wie konnte sie in diesem Moment nur Wert auf ihr Äußeres legen? Es war im Grunde doch völlig egal, wie sie aussah. Er hatte sie verlassen! Und woher wusste er von Leila? Woher kannte er ihren Namen? Tausend Fragen wirbelten in ihrem Kopf herum, während sie ihr Haar bürstete. Schnell tauschte sie das triste Sweatshirt gegen eine karierte Bluse und sprühte ein paar Tropfen Parfüm auf, als es auch schon klingelte.
Überpünktlich, wie immer , dachte sie und verzog bei diesem Gedanken das Gesicht.
Nervös zupfte sie an ihrer Bluse herum. Das Schminken und Haare machen hatte sie ein wenig abgelenkt, doch jetzt war sie aufgeregt wie eine Jungfrau vor der Hochzeitsnacht. Mit weichen Knien postierte sie sich hinter der Haustür. Sollte sie wirklich öffnen? Wäre es nicht besser, das Klingeln zu ignorieren und abzuwarten, bis er wieder gehen würde?
„Bitte öffne die Tür“, hörte sie ihn sagen.
Sie stand ganz still, hielt die Luft an und durchbohrte die Tür mit ihren Blicken.
„Ich weiß, dass du
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