Das Blut der Unsterblichen
dich jetzt vor mir?“, fragte er.
Sie schluckte trocken. „Ich weiß nicht. Sollte ich mich fürchten?“
Er wischte sich über den Mund und erhob sich. „Nicht vor mir.“
„Okay, ich glaube dir.“ Glaubte sie ihm wirklich oder sprach sie sich nur selbst Mut zu?
Er trat einen Schritt auf sie zu. Unwillkürlich wich sie zurück. Er hielt inne, zögerte. Dann zog er den Autoschlüssel aus seiner Jeans und warf ihn ihr zu. „Geh. Nimm den Schlüssel und fahr zurück.“
„Kommst du denn nicht mit?“
„Ich komme später nach.“
„Nein“, entgegnete sie entschlossen. „Wir fahren gemeinsam. Ich habe keine Angst vor dir.“
„Bist du sicher?“
Sie nickte, zwang sich, stillzustehen, während er langsam auf sie zukam.
Als er bei war, umfasste er ihr Gesicht mit seinen Händen. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie kalt seine Haut war, und dass seinem Atem jede Wärme fehlte. Er ist kein Mensch, schoss es ihr durch den Kopf. Sie kniff die Augen zu. Wartete.
„Sieh mich an Kristina“, sagte er. „Bitte.“
Sie öffnete die Lider. Wie ein fahler Mond schwebte sein Gesicht vor ihr. Die Augen fiebrig glänzend und tiefschwarz.
„Ich liebe dich“, fuhr er fort. „Und nichts wird daran jemals etwas ändern. Ich würde eher sterben, als dir ein Leid zuzufügen.“
„Wie kannst du mich lieben nach all der Zeit? Ich bin ein Mensch und ich bin alt geworden. Du dagegen bist noch immer jung.“
„Vierzig Jahre sind nicht alt, Kristina. Außerdem bin ich weitaus älter als du.“
Sie schnaubte, löste seine Hände von ihren Wangen. „Ich sehe aber älter aus. Wieso ich, Marcus? Du könntest so viele haben, wieso willst du mich, eine Sterbliche?“
Er sah sie ernst an. „Du bist es schon immer gewesen. Seit dem Moment, als ich dich zum ersten Mal sah, bist du es gewesen. Wie ein Erdbeben hast du meine Welt erschüttert und dich in mein Herz gebrannt und weder Falten noch graue Haare noch körperlicher Verfall werden daran irgendetwas ändern. Hältst du mich für derart oberflächlich? Hätte ich dich nur wegen deiner Jugend und deines guten Aussehens gewollt, wäre ich mit Sicherheit nicht zurückgekommen. Versteh das jetzt nicht falsch, du bist noch immer eine wunderschöne Frau, es ist mir ein Rätsel, wieso du das nicht siehst und es ist mir herzlich egal, dass du älter aussiehst als ich. Ich bin über zweihundert Jahre alt, ob man das nun sieht oder nicht, es macht mich trotzdem zu einer uralten Kreatur.“
Kristina ließ den Kopf sinken, starrte auf das dunkle Gras zu ihren Füßen. Das musste sie wohl hinnehmen, so rätselhaft es auch war. Vielleicht gab es wirklich so etwas wie Schicksal und ihre Lebenswege waren auf seltsame Weise miteinander verknüpft.
Doch könnte sie sich an sein wahres Ich gewöhnen? Wollte sie es überhaupt? Wollte sie ein Leben auf der Flucht? Wollte sie altern, während er jung blieb?
Jetzt war sie noch attraktiv, doch irgendwann würde ihre Haut faltig sein und so dünn wie Pergament, übersät mit Altersflecken. Ihre Augen würden zwischen den größer werdenden Hautfalten verschwinden. Ihr Gang würde unsicher werden und jeder vernünftige Gedanke würde sich in den verkalkten Windungen ihres Gehirns verlieren. Marcus ignorierte diese Vorstellung, doch er war ja auch nicht derjenige, der irgendwann aussehen würde, wie eine Dörrpflaume.
„Lass uns gehen, bevor Leila aufwacht“, sagte sie. Ihre Angst war verflogen, zurück blieb die bittere Erkenntnis ihrer Sterblichkeit.
Wenige Meter vor dem Ausgang nahm er sie auf den Arm, überwand innerhalb weniger Sekunden die Distanz bis zu dem großen Holztor, sprang über den Zaun und stellte sie neben dem Auto ab. Kristina sah ihn vorwurfsvoll an.
„Du hast es schon wieder getan“, schmollte sie. „Könntest du dir bitte angewöhnen, mich vorzuwarnen?“
„Ich verspreche Besserung“, antwortete Marcus, während er die Beifahrertür öffnete. Kristina stieg ein und wartete, bis er auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte. „Ich möchte so gerne wie du und Leila sein“, sagte sie.
Marcus blickte sie erstaunt an. „Trotz allem, was du eben gesehen hast?“
„Ja, denn was will ich hier, wenn ihr beide ewig lebt und ich bin Krankheit und Verfall ausgesetzt. Und wenn ich nicht sein kann wie ihr, dann ist es vielleicht besser, wenn ich einfach hier bleibe. Ihr könntet ein neues Leben beginnen, ohne mich. Ich stehe euch doch nur im Weg“, sagte sie leise.
„Wie kannst du so etwas sagen?“, stieß
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