Das Blut des Adlers 2 - Licht über weissen Felsen
Der Mann auf dem einzeln stehenden Stuhl erhob sich; das weiße Tuch wurde ausgeschüttelt, und mit kurzgeschorenem Kopf ging der Mann hinaus.
Warum sich ein so starker Mann, der nicht mehr zur Schule gehen mußte, wohl die Haare abschneiden ließ?
Die Geister hatten große Macht über die Menschen.
Bisher war im Raum kein Wort gesprochen worden, keines war durch die Luft geflogen zu anderen Menschen, keines auf die Erde gefallen mit den abgeschnittenen kraftlosen Haaren. Aber nun, als der Mann seine Schere noch einmal abwischte, obgleich kein Härchen mehr daran klebte, sagte er, und er sagte es wohl als Antwort auf eine Frage, die schon lange vorher gestellt worden war:
»Nein, den haben sie nicht gefunden. Dafür ist er Joe King.«
Der Mann klappte die Schere zusammen; das war der einzige Laut nach seinen Worten. Er wartete nun auf den nächsten, der auf dem einzelnen Stuhle Platz nehmen wollte. Es erhob sich aber noch niemand, um das zu tun. Alle lauschten, ob der Mann mit der Schere nicht weitersprechen wolle.
»Nein, was ihr denkt! Bei mir war er nicht. Der braucht mich nicht mehr. Dem scheren sie den Kopf von Zeit zu Zeit ganz woanders kahl. Aber ihm wachsen die Haare wie das Gras nach dem ersten Regen im Frühling. Ich weiß noch, wie er zu mir gebracht wurde, acht Jahre alt, und sollte in die Schule gehen. Der alte King hatte ihn bis dahin versteckt oder auch gesagt, er wisse nicht mehr, wann der Boy geboren sei. Aber er war schon mit acht Sommern und Wintern eine Wildkatze, kratzte und biß, und drei Männer haben ihn festgehalten, bis ich den Urwald von seinem Kopf wegbrachte. Ja. Das ist das Blut der Kings.«
»Der Inya-he-yukan.«
Als Wakiya diesen Namen hörte, glühten seine Wangen und seine Stirn auf wie Eisen im Feuer. Alles, was er gegrübelt und gedacht hatte, schmolz dahin. Inya-he-yukan! Inya-he-yukan hatte dieselbe Schande erlitten, die Wakiya nun erleiden sollte. Er, der Mann wie Fels und starkes Büffelhorn - der Mann, dessen Augen nicht schwarz waren wie Holz von erloschenem Feuer, sondern dunkel und zugleich licht gleich dem Himmel in der Nacht. Der Mann mit den verlorenen Augen hatte Schande über sich ergehen lassen müssen in den Händen der Feinde - als Kind, als Mann. Schande? Schande über jene, die ihm Gewalt angetan hatten! Schande über sie! Wakiya stand auf und ging zu dem Marterstuhl, auf dem Inya-he-yukan vor ihm gesessen hatte, als ein Knabe von drei Männern kaum bezwungen. Wakiya setzte sich hin, so, wie sich wohl einst ein Häuptling freiwillig an den Pfahl stellte, um seinen Mut zu beweisen.
»Schneide mir die Haare, Mann mit der Schere, im Dienste der Geister. Du kannst sie schneiden und wieder schneiden. Die Haare werden wachsen und wieder wachsen, weil die Toten nicht tot bleiben. Hau.«
Die beiden Männer, die noch auf den Stühlen an der Wand saßen, die Mutter und der Mann mit der Schere rissen die Lider hoch, so daß ihre Augen groß wurden wie die staunender Büffelkälber, und sie öffneten die Lippen, aber es kamen ihnen lange keine Worte aus dem Munde. Der Mann mit der Schere tat seine Arbeit; er tat sie gut. Wakiya saß da, wie aus Stein gehauen, und zuckte nicht einmal. Sein Kopf sah danach nicht aus wie eine Wiese, über die das Feuer gegangen ist. Seine schwarzen Haare legten sich gekürzt, aber glänzend und schön um die große Stirn und den stark gewölbten Schädel.
»Du hast sie nicht kurz genug geschnitten. Ich kann nicht oft hierherkommen.« Die Mutter kramte in ihrem alten ledernen Beutel.
Der Mann mit der Schere winkte ab. »Laß. Dafür gibst du kein Geld.«
Wakiya glitt von dem Stuhl wie ein Krieger, der seine Marterschmerzen tapfer bestanden hat und den Pfahl verlassen darf. Er ging zu der Mutter, ohne einen der Männer dabei anzuschauen.
Aber auf einmal schleuderten sich seine Arme und Beine von selbst. Sein ganzer Körper geriet ins Zucken, und er wurde bleich, als ob kein Blut mehr in ihm sei. Die Mutter nahm ihn noch in die Arme, aber auch das nützte nichts mehr. Er schlug um sich... Der Mann hatte seine Schere weggeworfen, schloß die Tür zu und verhängte das Fenster. Die beiden anderen Männer wollten Wakiya festhalten, aber dadurch wurde das Übel nur schlimmer. Sie ließen entsetzt los, als sie Wakiyas unnatürliche Kraft spürten und den Schaum vor seinem Munde sahen. Die Mutter legte das Kind auf den Boden und bettete den Kopf, so weich sie vermochte.
Hilflos und voll Schrecken warteten alle, bis der Anfall der
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