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Das Blut des Adlers 2 - Licht über weissen Felsen

Das Blut des Adlers 2 - Licht über weissen Felsen

Titel: Das Blut des Adlers 2 - Licht über weissen Felsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Frühe jenes Morgens, sobald Mutter und Kinder alle erwacht waren, hatte Wakiya-knaskiya die Wangen und die Stirn der Mutter gestreichelt, und sie sah seine Augen in dem mageren und blassen Gesicht leuchten. Da lächelte sie noch einmal und erkannte in ihm den Vater wieder, denn Wakiya glich ihm. Sie ahnte aber auch und wußte doch nicht woher, daß Wakiya-knaskiya eines Tages noch mehr sein könnte, als der Vater gewesen war. Sie herzte das Kind, mit dem sie am meisten Sorgen hatte, gab allen das Frühstück aus Mehl und Fett in der Pfanne und machte sich mit Wakiya-knaskiya auf einen Weg, der noch weiter war als jener, den der Vater sein Kind ein Jahr zuvor geführt hatte. Der kleine Bruder, der vier Winter gesehen hatte, und die kleine Schwester blieben allein mit den Hunden zurück. Was sollte ihnen geschehen? Sie lebten in den weiten Wiesen, auf denen es im hohen Sommer kein reißendes Wasser und nirgendwo wilde Tiere oder tiefe Abgründe gab.
    Die Mutter hatte ihre Bluse und ihren Rock gewaschen, ehe dieser Tag herangekommen war, und das schwarze lange Haar am Morgen sorgfältig gekämmt und in Zöpfe geflochten. So ging sie mit Wakiya-knaskiya über das einsame Land, ein paar Scheiben Brot und einige Beeren in der Tasche.
    Wakiya war munter und fühlte sich gesund; er dachte an diesem Morgen nicht an das Leiden, das ihn vor einem Jahr befallen hatte. Seine Schritte waren nun schon größer und die Muskeln seines schmächtigen Körpers kräftiger geworden. Er war glücklich. Die Freude strahlte in ihm auf wie das Licht am Morgen; nichts stand ihr entgegen, und er koste damit die Gräser, die bald wieder die Nahrung der Büffel sein sollten; er fühlte unter den nackten Füßen die Erde, deren Herz wieder unter den Hufschlägen der Mustangs klopfen würde; er sog die Luft ein, die er künftig nach dem Gebet wieder zusammen mit den großen Kriegern und Häuptlingen der Prärie atmen wollte. Die Geister aber mußten verschwinden, als wären sie nie gewesen. Die überwältigende Erwartung des künftigen Lebens trieb ihm alle seine Säfte und Kräfte zu schnellerem Lauf; Wakiya war ganz erfüllt. Denn in der kommenden Nacht würde der Alte beten, und obgleich sich das bleich schimmernde runde Gestirn in diesen Nächten zu verstecken pflegte, würde es am schwarzen Himmel hervorkommen. Dann kehrte der Vater wieder, und mit ihm kamen alle die Toten im hirschledernen Gewand, mit Adlerfedern, Büffelhörnern und Hermelin und mit dem Stabe ihrer Herrschaft über das weite Land. Hin und wieder rann es Wakiya wie Flammen durch die Glieder, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er glaubte schon nicht die Hand der Mutter, sondern die des wiedergekehrten Vaters gefaßt zu haben, aber er besann sich. Noch war es Tag. Erst wenn es finster wurde und der erste Stern flimmerte, würde der Alte zu beten beginnen, und dann erst kehrten die Toten zurück.
    Wakiya erinnerte sich an einiges aus den Liedern, die der Vater vor einem Jahr gesungen hatte, und sang leise vor sich hin, obgleich ihm der Atem beim Laufen und Singen ausgehen wollte. Die Mutter horchte auf, schaute auf das Kind, blieb stehen und wischte ihm den Schweiß von der Stirn.
    Wakiya verstummte. Beim Laufen durfte man nicht singen, das war unrecht. Wer sang, mußte bei sich selbst und seinem Lied sein und nicht mit den Füßen unstet über Gras und Erde fegen.
    Wakiya wurde noch blasser, und seine großen Augen wurden noch größer. Die Mutter stieg mit ihm einen hohen steilen Hang hinauf. Gras und Erde waren aufgerissen, und weiße Erdhänge drangen hervor, Felsen gleich, so weiß wie Wolken. Wakiya-knaskiya nahm die Hand vor den Mund und grüßte sie stumm und ehrfürchtig, denn sie waren das Grabmal eines großen Häuptlings, das nicht von Menschenhand geschaffen war. Hier lag er verborgen, und die Geister konnten ihn nicht ausgraben, und sie konnten den Toten nicht mit ihren schamlosen Stimmen stören; die Laute ihrer Geistersprache fanden nicht zu seinem Ohr. Doch wenn sich die Sonne dieses Tages senkte und der Alte seine Hände zum Himmel heben würde, dann sollte mit dem Monde auch der große Häuptling auferstehen.
    Wakiya lief mit der Mutter zwischen den weißen Felsen abwärts einem fremden Tale zu. Nadelzweige kratzten ihn, Steine drückten sich in seine Fußsohlen, vor seinen Augen schimmerte die Sonne, rund wie ein Schild, rot wie Blut. Als Wakiya in das fremde Tal hinunterblicken konnte, öffnete sich ihm vor Schrecken der Mund, ohne einen Ton

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