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Das Blut des Adlers 2 - Licht über weissen Felsen

Das Blut des Adlers 2 - Licht über weissen Felsen

Titel: Das Blut des Adlers 2 - Licht über weissen Felsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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hervorzubringen, und Wakiya verlor den Halt. Die Mutter mußte hastig zugreifen, damit er nicht stürzte. Im Tal unten wand sich eine endlose, plattgetretene Schlange: der Weg der Geister.
    Die Geister hatten den Weg in das Tal des Alten gefunden. Was würde nun geschehen? Wakiya blickte nicht mehr hinunter, sondern nur noch Schritt für Schritt vor sich hin. Aber er dachte an die platte Schlange ohne Anfang und Ende. Sie war tot, sie war grau, aber sie war nicht Erde noch Stein, noch Haut. Sie atmete nicht, sie trug weder Gräser noch Blumen, sie war weder kantig noch schroff. Glatt war sie, leblos, fremd. Welcher Fuß konnte sie überschreiten? Unberührt, voller Tücke wand sie sich durch das Tal und trennte die Toten von dem Alten. Gab es ein Gebet, das den Weg der feindlichen Geister überschreiten konnte?
    Wakiyas Lippen zitterten, doch er sagte nichts zu der Mutter. Sie würde wohl alles wissen. Ruhig und unbeirrt stieg sie den Hang weiter abwärts, hin zu den grünen Füßen der weißen Felsen.
    Wakiya konnte seine Augen nicht mehr abwenden, sie mußten jetzt die platte Schlange ansehen. Die Mutter führte ihn geradewegs darauf zu. Sie trat darauf, und Wakiya folgte ihr mit seinen bloßen Füßen. Er spürte das Harte, Glatte, Fremde und zog die Fußsohlen und die Zehen zusammen, um sich zu schützen und abzuschließen vor dem feindlichen Geheimnis. Aber während er die breite leblose Schlange mit heiler Haut überschritt, wurde ihm besser zumute. Denn was er vermochte, das vermochten auch - Nein, dessen war er nicht gewiß. Für Tote und für Lebende galten andere Gesetze.
    Wakiya-knaskiya und seine Mutter ließen die Banngrenze der Geister hinter sich. Sie lag hinter ihrem Rücken, und sie stiegen wieder aufwärts, und Wakiya konnte den Blick zur Höhe heben, ohne das Unbekannte und Verwirrende zu sehen. Was vor ihm lag, war vertraut: ein kleines Blockhaus aus roh behauenen Stämmen, ohne Fenster, nur mit einer Türöffnung, nacktes Holz, sich lösende alte Rinden, Moder, schüchternes Moos am Dach und über allem der Abschied der Sonne, die wieder am gilbenden Himmel hing wie der runde Schild eines Kriegers an der Zeltwand. Wakiya-knaskiya klammerte sich an die Hand der Mutter, denn aus der dunklen Öffnung des Hauses trat der Alte heraus.
    Er war groß, größer noch, als der Vater gewesen war. Was seine hagere Gestalt umkleidete, war ein hirschlederner Rock, hirschlederne Leggins und Mokassins und ein langer Schurz, gestickt mit den geschmeidigen Borsten des Stachelschweins, deren einige mit roter Erde, einige mit gelber Erde und einige mit dem Blau der Yuccakerne gefärbt waren. Das Gestickte zeigte drei Ecken, auf der Brust aber acht Zacken, und Wakiya-knaskiya erkannte an den drei Ecken das Zeichen des Tipi, Mutterschoß, Heim und Heimat, und an den acht Zacken der Sterne die acht Winde, die überallher vom Himmel über die Erde kamen. Das waren die Zeichen, die auch Wakiya heilig hielt, und der Vater hatte ihn noch gelehrt, sie zu verstehen. Die Mutter hatte haltgemacht. Wakiya drückte sich an ihre Hüfte, und die beiden warteten miteinander, ob der Alte zu sprechen beginnen würde. Sein Gesicht war ausgemergelt wie der Stein von Wasser in vielen Jahren, sein Haar war dünn und grau geworden wie das Gras im langen Winter, seine Arme glichen Zweigen eines gestürzten Stammes. Der Alte hatte keine Augen mehr.
    Aber mit den leicht erhobenen, in der Luft tastenden Händen kam er geradewegs auf Wakiya-knaskiya zu, und als ob er das Kind am tiefen Atem erlauscht und gefunden habe, beugte er sich herab und legte die Hand auf Wakiyas Haar, so sacht wie einst der Vater.
    »Du bist zu mir gekommen, Wakiya-knaskiya, wie dein Vater mir vor einer großen Sonne gelobte. Du bist sein Sohn und sollst alles finden, was ich dir zu weisen vermag, und du sollst alles schauen, was sich uns in dieser Nacht zeigen will. Dein Vater ist von dir gegangen, und auch ich werde bald gehen; die Stimmen der Väter rufen mich. Aber ich will dich vorher auf den Weg schicken, die Augen zu suchen, die ich verloren habe.«
    Wakiya-knaskiya lauschte auf die Stimme des Alten, die sanft und dunkel klang wie das Rauschen der heiligen Winde, wenn sie dem Lande wohltun wollten und den erquickenden Regen brachten.
    »Ich will aber gehen und die Augen suchen, die du verloren hast, mein alter großer Vater.«
    Der Alte strich dem Kind über das lange schwarze Haar und neigte den Kopf tiefer.
    »Du wirst ein Bruder der Geheimnisse,

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