Das Blut des Skorpions
irgendwelchen Gründen hatten es sich einige dieser Besessenen in den Kopf gesetzt, dass auch er tatkräftig mithelfen sollte. Daher diente sein verzweifeltes Umherstreifen nicht nur der Suche nach einem Ruheplatz - er wollte es auch vermeiden, irgendeinem übereifrigen Lakaien in die Fänge zu geraten, der ihn garantiert damit beauftragen würde, zentnerweise Silberbesteck zu putzen oder, schlimmer noch, die Fußböden zu schrubben. Gerlando bereute es inzwischen stark, vor etwa zwei Jahren das Angebot Melchiorris angenommen zu haben. Damals war es ihm ausgesprochen verlockend erschienen: ein Dach über dem Kopf, drei gesicherte Mahlzeiten am Tag und nur wenige, unbedeutende Pflichten. Eine schöne und bequeme Art, nach einem Leben voller Abenteuer und Sorgen seine letzten Jahre zuzubringen. Solange die Renovierungsarbeiten im Palazzo angedauert hatten, hatte die Wirklichkeit auch durchaus seinen Erwartungen entsprochen, aber jetzt… Jetzt war sich Gerlando nicht mehr so sicher, dass die Vorteile dieser Existenz die Nachteile überwogen. Vielleicht sollte er doch besser sein früheres Leben wieder aufnehmen, das zwar weniger sicher, dafür aber freier war.
Immer öfter dachte er in letzter Zeit außerdem an sein heimatliches Kalabrien, das er vor fast einem halben Jahrhundert verlassen hatte, und malte sich aus, wie schön es wäre, dorthin zurückzukehren und zur letzten Ruhe an dem Ort gebettet zu werden, wo er geboren worden war. Doch Kalabrien war genauso karg und arm, wie es schön war. Von was sollte er dort leben? Ach Gott, das waren nur die Träume eines alten Mannes, die niemals wahr werden konnten.
Mit solcherlei Gedanken beschäftigt schlüpfte Gerlando hinter eine Hausecke, um sich vor einem Diener zu verstecken, der wild entschlossen schien, ihn mit irgendeiner undankbaren Arbeit zu betrauen.
Das Gelände hinter dem Pavillon war noch nie mit einer Gartenschere in Berührung gekommen, wahrscheinlich weil es weder vom Haupthaus noch vom Park aus eingesehen werden konnte. Niemand hatte es in diesen geschäftigen Tagen für nötig befunden, Hand an den kleinen Dschungel zu legen, in dem die Natur sich ungehindert ausbreiten konnte.
Es war nicht einfach, sich einen Weg durch dieses Dickicht wild wuchernder Sträucher zu bahnen, das von einem Geflecht aus Winden noch undurchdringlicher gemacht wurde, aber Gerlando baute darauf, dass die kleine Mühe mit einem für aufdringliche Personen unerreichbaren Zufluchtsort belohnt werden würde. Endlich gelangte er zu einer Stelle, wo die Vegetation weniger dicht war, ging um die verkrüppelten Stämme zweier Akazien herum und fand den Ort, nach dem er schon den ganzen Morgen suchte: eine kleine Lichtung an der Rückwand des Pavillons, eine Insel aus Sonne und Wärme inmitten der dunklen Schatten des Laubwerks. Die Hauswand bildete dort eine kleine Auskragung, wenige Handbreit über der Erde, eine Art Verstärkung für das Fundament vermutlich, die Gerlando höchst willkommen war. Was wollte man mehr? Ein abgeschiedener Winkel, eine breite, bequeme Bank und niemand, der einem auf die Nerven ging. Das Leben konnte so angenehm sein, wenn man es verstand, sich zu begnügen.
Wohlig seufzend ließ das Männchen sich mit seinen dürren Hinterbacken auf die Bank nieder und genoss die im Stein gespeicherte Wärme, die seinen alten Knochen guttat. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und schloss die Augen im Vertrauen, dass der Schlummer ihn in Kürze in sein magisches Reich entführen würde.
»Ist jemand dort oben? Ist da jemand? Antwortet mir, Herrgott noch mal!«
Gerlando fuhr auf, als er die Stimme hörte, die aus dem Nichts zu kommen schien.
Hatte er geträumt?
Er sah sich um, aber da war niemand.
»So antwortet doch!«, rief die Stimme. »Ich weiß, dass da jemand ist. Antwortet, um Himmels willen!«
Nein, das war kein Traum, da rief tatsächlich jemand.
»Wer bist du? Wo bist du?«, murmelte er und fürchtete, dass dieser scheinbar so friedliche Ort von Geistern heimgesucht wurde.
»Ich bin hier unten! Hier unten!«
Gerlando blickte auf seine Füße, aber die Bank, auf der er saß, hatte kein »Unten«. Offenbar trieben da tatsächlich ein paar übermütige Geister ihre Scherze mit einem armen alten Mann.
»Da unten ist nichts«, sagte er. »Doch, ich bin hier unten, seht genau hin. Im Keller! Durch ein kleines Fenster kann ich eines Eurer Beine erkennen.«
Gerlando bückte sich und sah wirklich auf der Höhe seiner linken Ferse eine kleine
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