Das Blut des Skorpions
wissen außerdem, dass er sich in diesem Moment in Rom befindet, auch wenn wir keine blasse Ahnung haben, wer er ist oder wie er aussieht. Nehmen wir nun einmal an, dass sein Versteck damals ebenjene Novizenschule war. Das ist natürlich nur eine vage Hypothese, doch die Archive der Gesellschaft Jesu werden traditionell gut gepflegt. Jede kleine Information wird genauestens vermerkt und systematisch aufbewahrt. In diesen Archiven könnten wir nach einem Hinweis suchen, der unsere Vermutungen erhärtet.«
»Ihr habt recht«, sagte Azzolini, »einen Versuch ist es wert. Gleich morgen schicke ich jemanden hin, um Nachforschungen anzustellen. Ich werde mir einen plausiblen Vorwand ausdenken müssen, damit die Gesellschaft keinen Verdacht schöpft, aber das sollte nicht schwer sein. Ich glaube, ich habe den richtigen Mann dafür an der Hand, fähig und diskret. Vorläufig werden wir weiter nach Plan vorgehen, ohne in unserer Wachsamkeit nachzulassen. Vielleicht wissen wir morgen ja mehr. Diese Spionin, die Ihr vorhin erwähnt habt, meint Ihr, sie könnte uns Informationen liefern, um…«
»… ihn zu identifizieren?«, beendete der Franzose die Frage.
»Genau.«
»Ich hoffe es. Wenn uns das gelänge, wäre es ein großer Fortschritt. Aber wir sollten auch die anderen Spuren weiterverfolgen und nichts unversucht lassen.«
Im Gegensatz zu ihrem Freund hatten Zane und Beatrice keine Schwierigkeiten, das Theater zu verlassen. Als die enthauptete Leiche gefunden wurde und Panik ausbrach, hielten sie sich gerade in der Nähe des Künstlereingangs auf und konnten daher schnell mit dem Strom der Menge hinausgelangen.
Draußen hielten sie sich noch eine Weile inmitten des Gedränges auf und versuchten, Fulminacci irgendwo unter den Leuten zu entdecken und den von Mund zu Mund gehenden Gerüchten und Vermutungen ein paar zusammenhängende Fakten zu entnehmen. Die Nachrichten, die sie aus genauso zahlreichen wie unzuverlässigen Quellen bekamen, lauteten sehr unterschiedlich: Einige behaupteten, es sei ein Mordanschlag auf die Königin von Schweden verübt worden, andere sprachen von einem Ehrenduell, wieder andere von einem rätselhaften Mord an einem Geistlichen oder stellten noch makabrere und wildere Spekulationen an.
Es war unmöglich, Wahres von Flunkereien zu unterscheiden, doch nach den Ereignissen der vergangenen Tage hielt Beatrice die These von dem ermordeten Geistlichen für die wahrscheinlichste.
Lange drängten sich die beiden suchend durch den Menschenauflauf, aber keine Spur von Fulminacci. Dann erschienen plötzlich Trupps von Schergen, die die Zuschauer wenig methodisch nach irgendwelchen Hinweisen oder Augenzeugenberichten befragten. Beatrice und Zane kamen überein, dass es zu gefährlich wäre, noch länger zu verweilen, und machten sich schweren Herzens auf den Heimweg.
»Nanni ist einer, der sich zu helfen weiß«, sagte Beatrice, während sie in Richtung des Flusses davongingen. »Ich bin sicher, dass er es geschafft hat zu entwischen. Außerdem können wir ihm unter diesen Umständen sowieso nicht helfen.«
Ihr stummer Begleiter nickte ernst.
Sie mieden die großen Hauptstraßen und machten einen Umweg über Nebenstraßen und Gassen. Je weiter sie sich von der Gegend um das Theater entfernten, desto mehr verzweigte sich der Menschenstrom, der sich aus dem Gebäude ergossen hatte, in viele kleine Bäche. Zahlreiche Schaulustige standen immer noch vor dem Haupteingang herum, aber die massive Präsenz der Wachen hatte die meisten vertrieben.
Beatrice und Zane trugen immer noch ihre Bühnenkostüme und mussten sich daher trotz der warmen Abendluft fest in ihre Umhänge hüllen.
Als sie in die Nähe des Ghettos kamen, bemerkten sie, dass alle Kreuzungen von bewaffneten Männern bewacht wurden. Es waren aber nicht die üblichen Wachen, denn sie trugen keine Uniform und patrouillierten auch nicht durch die Straßen, sondern hielten unbeweglich die Stellung.
Die Häscher der Inquisition planten eine neue Schandtat.
Die beiden kehrten um, gingen ein Stück vom Fluss weg und bogen in eine Reihe von Gassen ein, die in einen wenig bevölkerten Teil der Stadt führten.
Dort war das niedrigst gelegene Viertel Roms, das bei starken Regenfällen noch mehr vom Tiber überflutet wurde als das Ghetto. Im Laufe der Jahrhunderte, seit seine Bewohner, anders als die jüdische Gemeinde, frei entscheiden durften, wo sie sich niederließen, hatten immer mehr Menschen das Viertel verlassen, das jetzt praktisch leer
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