Das Blut des Skorpions
stand. Dadurch waren die sowieso schon heruntergekommenen Behausungen noch mehr verfallen und boten denen, die sich dorthin verirrten, einen trostlosen und gespenstischen Anblick, besonders bei Nacht. Wie immer in solchen Fällen war die Gegend zu einem Schlupfwinkel für dunkles Gelichter und arme Schlucker geworden, welche die Ruinen zu ihrem Zufluchtsort erkoren hatten. Die Wachen betraten das Viertel bei Tag nur selten und ungern und nach Sonnenuntergang überhaupt nicht.
Zane und Beatrice gingen vorsichtig weiter und spähten jedes Mal zuerst um die Ecke, ehe sie in eine Gasse einbogen oder einen kleinen Platz überquerten. Hin und wieder, wenn sie um ein eingestürztes Haus oder halb zerstörte Thermen herumgingen, sahen sie hinter den zerbrochenen Mauern den Widerschein eines Lagerfeuers.
Meistens saßen halb verhungerte Bauern darum, die vom Land in die Stadt geflohen waren, um der harten Fron für die gierigen Großgrundbesitzer zu entkommen und etwas zu essen zu finden. Manchmal waren es auch Grüppchen von Hirten, die diese abgelegenen Orte aufsuchten, um ihre Herden für die Nacht unterzubringen und morgens auf die Märkte zu treiben.
Zuweilen jedoch verbargen sich in den Höhlen aus Mauerresten und Trümmern gefährliche Banden von Straßenräubern, Dieben und Halsabschneidern, ruchlose Verbrecher, die nichts zu verlieren hatten.
Zum Glück fand sich Zane mit verbundenen Augen in dieser Unterwelt zurecht; er kannte jede Kluft, jeden Durchgang, jeden Schleichweg. Bei seinen geheimnisvollen Besorgungen für die Wahrsagerin hatte er die finsteren Gassen schon unzählige Male durchkämmt und wusste genau, welche Bereiche man meiden musste und welche man relativ sicher durchqueren konnte.
Als sie zum Fluss kamen, war die Nacht schon weit fortgeschritten. Nur eine schmale Mondsichel spendete ein schwaches, milchiges Licht, doch der Slawe bewegte sich sicher und ohne Zögern, als verfügte er über einen sechsten Sinn.
Er stieg zum Ufer hinunter und führte seine Begleiterin zu einem winzigen Anleger, wo ein kleines Boot mit flachem Boden an einem rostigen Metallring festgemacht war.
Das Boot war mit Laubwerk bedeckt, damit es sowohl vom Wasser als auch vom Ufer aus nicht leicht zu sehen war. Zane entfernte die Tarnung, half Beatrice beim Einsteigen und begann kräftig zu rudern.
Es war nicht einfach, den Fluss in einer derart dunklen Nacht zu überqueren, zumal die Regenfälle des Frühjahrs das Wasser hatten stark anschwellen lassen, sodass die sonst ruhige Strömung wild und bedrohlich wirkte. Zane jedoch stammte aus einem Land von Seefahrern und hatte fast sein ganzes Leben auf dem Wasser zugebracht – weder die starke Strömung noch die häufigen Strudel erschreckten ihn.
Mithilfe seiner herkulischen Kräfte und seiner Erfahrung überwanden die beiden das nasse Hindernis ohne Gefahr.
Das Boot legte mit einem dumpfen Schlag am anderen Ufer an, wo Zane es festmachte. Anschließend kletterten sie auf eine Mole aus Stein, die noch von den alten Römern stammte und auf der sie gut vorankamen.
Keine Menschenseele begegnete ihnen, und innerhalb von wenigen Minuten hatten sie die Hütte der Wahrsagerin erreicht.
Kaum waren sie durch die Tür getreten, empfing sie eine vertraute Stimme: »Teufel, ihr habt aber lange gebraucht! Ich wollte mich gerade schlafen legen.«
Kapitel XXIV
Wie… Wie bist du hierhergekommen?« Beatrice war die Erleichterung anzuhören, den Maler gesund und wohlbehalten vor sich zu sehen.
»Durch einen glücklichen Zufall«, antwortete Fulminacci. »Ich habe einen alten Freund getroffen, der mir aus diesem Irrenhaus herausgeholfen hat.«
»Einen Freund?«
»Allerdings, und was für einen! Keinen Geringeren als den Ehrwürdigen Großmeister Baldassarre Melchiorri, Leibarzt und Astrologe der Königin von Schweden.«
»Woher kennst du Melchiorri? Er ist einer der angesehensten Männer der Stadt, der Liebling der adeligen Salons. Ich wusste gar nicht, dass du in solchen Kreisen verkehrst.«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Fulminacci und streckte die Beine unterm Tisch aus. »Nebenbei bemerkt, er heißt nicht wirklich Melchiorri.«
»Erzähl, wir sind gespannt«, forderte Beatrice ihn auf, als sie sich zu ihm setzte. Es war spät, und sie waren alle sehr müde, aber für eine gute Geschichte lohnte es sich, auf ein paar Minuten Schlaf zu verzichten.
»Wir haben uns vor sieben oder acht Jahren in Mailand kennengelernt«, hob Fulminacci an. »Ich malte damals
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