Das Blut von Magenza
Jesusknaben skizziert. Nur mit ihren Gesichtszügen tat er sich schwer und so blieb ihr Antlitz eine leere Fläche. Aber das beunruhigte ihn nicht; er wusste, dass der Stein zu gegebener Zeit seine Hand führen würde.
Auf ihn kam es an, seine Qualität war eine wichtige Voraussetzung, damit sein Vorhaben gelang. Deshalb traf er seine Wahl mit Bedacht. Die Größe war ein entscheidendes Kriterium, ebenso die Maserung, seine Festigkeit und Struktur. Eigentlich bevorzugte Widukind für Skulpturen den Sandstein aus dem Flonheimer Steinbruch, denn er entstammte dem Rotliegenden und strahlte eine besondere Wärme aus, die ihm eine ganz eigene Ausdruckskraft verlieh. Aber er war weicher und grobkörniger als andere Steine und verwitterte somit vorzeitig. Zwar würde die Madonna nicht im Freien aufgestellt werden, da aber die anderen Blöcke der Lieferung für die Außenfassade des Doms verwendet wurden, hatte Meister Archibald den witterungsbeständigeren Mainsandstein geordert.
Widukind fiel die Entscheidung nicht leicht und er hatte stundenlang die Quader umkreist. Er klopfte sie ab und ging vor ihnen in die Knie, um sie aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln zu betrachten. Als er am späten Mittag endlich den passenden Block gefunden hatte, schaffte er ihn mit Hilfe der anderen Gesellen unter den Unterstand, wo er für die nächsten Wochen bleiben würde.
Inzwischen war es dunkel geworden und Widukind begutachtete ihn nun im Schein der Fackeln. Selbst indiesem spärlichen Licht schien er beseelt und Zwiesprache mit ihm zu halten. Noch war er nur ein grober Fels, aber er würde seine Schönheit freilegen und sie den Augen des Betrachters offenbaren. Beinah zärtlich strich er mit seinen rauen Fingerkuppen über den Quader, der ihm gar nicht kalt erschien. „Du wirst die Zierde der Kirche werden und selbst an einem trüben Tag im Glanz deiner Schönheit erstrahlen“, raunte er ihm zu.
Für Widukind stand außer Zweifel, wo die Figur ihren Platz finden würde: in St. Maria ad gradus links neben dem Altar, hoch über den Köpfen der Gläubigen, damit sie zur Gottesmutter aufblicken mussten. Die Kirche wurde auch „Maria zu den Stufen“ genannt und begrüßte als Vorbau des Doms vom Rhein kommende Besucher. Bischof Willigis hatte den Gebäudekomplex nach römischem Vorbild in Anlehnung an St. Peter vor beinah 100 Jahren konzipiert. Dieser Kirchenkomplex war sein großer Traum gewesen, der leider schnell ausgeträumt war, denn der gerade fertiggestellte Dom brannte am 29. August Anno Domini 1009 ab. Heute wusste man nicht mehr, ob er da schon geweiht gewesen war oder der Brand am Vorabend der Weihe ausbrach.
Es dauerte 29 Jahre, bis Erzbischof Bardo das zerstörte Gotteshaus wieder aufbauen ließ. Zu diesem Zeitpunkt war Willigis längst tot und sein größter Wunsch, im Dom bestattet zu werden, blieb unerfüllt. Stattdessen ruhten seine Gebeine nun in St. Stephan, einer weiteren Lieblingskirche, die auf einer Kuppe hoch über der Stadt lag und deren Erbauer er ebenfalls gewesen war.
Widukinds Magen knurrte und erinnerte ihn an die späte Stunde. Seit dem Morgen hatte er nichts mehr gegessen und nun bekam er Hunger. Er entledigte sich seiner Schürze, befreite sich vom Staub, nahm eine Laterne, löschte die anderen Lichtquellen und verließ die Dombauhütte. Der Regen war heftiger geworden und er senkte den Kopf, um seine Augen zu schützen. Sein gelocktes Haar, das unter der dichtanliegenden Kappe wie ein Kranz hervorquoll, erwies sich dabei als nützlicher Schutzschild.
Widukind war in Gedanken immer noch bei seiner Madonna und schenkte seiner Umgebung kaum Beachtung. Als er jedoch in die Gasse hinter der Burg einbog, die ihm häufig als Abkürzung auf seinem Nachhauseweg diente, hörte er ein ungewohntes Geräusch, das wie rostige Türangeln klang. Aufmerksam geworden hob er den Kopf und schaute nach vorn, doch ein Mauervorsprung unmittelbar vor ihm versperrte die Sicht. Er umrundete ihn und erblickte einige Schritte vor sich eine Frau, die eilig die Gasse entlanghuschte.
Im Weitergehen blieb sein Blick auf einer kleinen Pforte hängen, die ihm noch nie aufgefallen war. Im Frühjahr und Sommer verbarg sie sich weitgehend unter Grünzeug, denn die trockenen Ranken einer Kletterpflanze umwucherten sie. Widukind vermutete, dass sie in die Burg führte und dass die Frau sie soeben benutzt hatte. Das verwunderte ihn, wo doch die Hauptpforte deutlich bequemer war. Aber da er das Weib nicht kannte und er sich auch
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