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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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nicht nur zum Nationalkünstler, sondern zum internationalen mondänen Luxuskünstler gebracht hatte, der nicht nur das Publikum von Zagreb, sondern auch das von Rom und Chicago erreichte, und zwar keineswegs mit einem Programm ländlicher Unschuld, naiver Urkraft, einem ästhetischen Barbarentum, sondern im Erspüren des Zeitgeschmacks, der Mode, der Vorliebe für Anspielung und Zitat – oder war es gerade die bäuerliche Unschuld, was ihn dazu befähigte, den Geist der großen Städte ungefiltert durch sich hindurchwehen zu lassen?
    Meine Hoffnung, bei Ivanas Eltern irgendein Erinnerungsstück an den großen Onkel, Vetter, Vorfahren zu finden, eine frühe Zeichnung, einen ersten halbbearbeiteten Tonklumpen, wenigstens ein Foto, zerschlug sich. An Bildern gab es hier nur Öldrucke des Herzens Jesu, blutrot flammend, einer Madonna von Loreto, die in der italienischen Besatzungszeit hier hängen geblieben war, Hochzeitsfotos der Großeltern, erstarrte Masken, im Atelier mit dem Pinsel bis zur Unkenntlichkeit verschönert. Die Großmutter hatte einzeln zu zählende Fliegenbeinwimpern bekommen, der Großvater trug ein blitzendes Lichtpünktchen auf den vollen Lippen, die er weder seinem Sohn noch Ivana vererbt hatte, dafür aber ihrem Bruder Mirko, dem Spätling, dem Allerjüngsten, der noch nach der wütenden Steinzeitschufterei geboren worden war, das Glückskind, dem das Leben auf dem Mestrovic-Gehöft bisher nur gelächelt hatte.
    Sowie der härteste Lebenskampf von der Familie abgefallen war, unbegreiflich genug, hatte der Vater auch seine strengen Erziehungsmethoden vergessen, als ob das regelmäßige Durchprügeln der Kinder zu der auslaugenden, niemals endenden körperlichen Arbeit gehört hätte, so wie auch während der Schlacht strengere Strafen über ungehorsame Soldaten verhängt werden als in Friedenszeiten. Selbst damals hatte er freilich Ausnahmen gemacht. Als die fünfjährige Ivana, die die Ziegenherde weidete, am Abend gestand, vier junge Ziegen verloren zu haben, weil sie mit anderen Kindern gespielt und nicht aufgepaßt hatte, ließ der Vater die Daumen im Gürtel stecken und zog ihn nicht aus den Schlaufen, sondern sah sie lange abwesend an. Das hatte Ivana nicht vergessen; die Leistung, keine Ausrede gesucht und nicht gelogen zu haben, allerdings ebensowenig, denn sie vergaß nie, was sie geleistet hatte. Leistungen mußten anerkannt werden, zuallererst von dem, der sie erbrachte.
    Welche Leistungen hatte Mirko erbracht? Keine nennenswerte, aber nicht einmal seine ältere Schwester Ivana nahm ihm das übel. Sie blickte mit einer seltenen Miene, in der sich Rührung und Ironie mischten, auf den Nachgeborenen, als wolle sie sagen: »Gewiß, er gefällt den Leuten, aber wissen die auch, was für ein Früchtchen das ist?« Zu ihrem starken Gerechtigkeitsempfinden gehörte, jeden an seinem Platz gelten zu lassen. Mirko kamen andere Pflichten und Rechte zu als ihr oder gar Anna, der sie, fürchte ich, sehr wenig zubilligte, obwohl kein unfreundliches Wort in meiner Gegenwart zwischen den beiden fiel.
    Und so war es Mirko, der mich bei meiner Suche nach Mestrovics Geburtshaus unterstützen sollte – aber da gab es nichts zu recherchieren; wir würden mit dem Motorrad in die Kleinstadt fahren und dort würde er mir das Haus zeigen – ganz einfach. Er kenne das alles ganz genau. Dies bemerkte er zum nicht geringen Erstaunen seiner Eltern, die von Mestrovics Geburtshaus gar nichts zu wissen meinten. Woher der Knabe das wohl hatte? Der Knabe war inzwischen auch schon über fünfundzwanzig, die Lebenslust sprang ihm aus den Augen. Das Lächeln verließ den Mund nur, wenn er sich eine neue Zigarette ansteckte und mit den Augen in den Rauch blinzelte. Es war ein anderes Lächeln als das Dauerlächeln des Vaters, in dem, wie ich jetzt zu erkennen meinte, Resignation und die Abwehr jeder Zudringlichkeit lagen. Mirko hingegen wehrte nichts ab, er zog an, ob er es brauchen konnte oder nicht. Nur sein wirbelndes Temperament bewahrte ihn davor, daß an ihm kleben blieb, was er selbst herbeirief.
    Es war jedermann vollständig klar, daß Mirko, so sicher er im Schoß der Familie ruhte, niemals die Heimat wie Ivana verlassen und das Abenteuer des Söldner- und Lohnarbeitertums in der Fremde auf sich nehmen, aber ebensowenig die elterlichen Traditionen, so wenig von ihnen übriggeblieben war, fortsetzen würde. Den Garten, der in einer sinnvollen Ordnung die Erinnerung aller Klostergärten des Mittelalters, aber

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