Das Blutbuchenfest
sagte, waren unruhig und lustlos. Von Kaufrausch lag nichts in der Luft. Der Rausch hatte seinen Ort nur vor den am Rande liegenden Schnapsbüdchen, über denen »Bife« zu lesen war, das war eine Slawisierung von Buffet, aber auch die Sliwowitze, die hier schnell getrunken wurden, versetzten nicht in menschenfreundliche Stimmung. Die Trinker standen schweigend herum und blickten düster auf die Passanten.
Doch wo Mirko war, da löste sich die Verhaltenheit für einen Augenblick. Es war schwer, mit ihm Schritt zu halten. Er tanzte geradezu durch die Menge, die sich in seiner Gegenwart wieder zu Einzelgesichtern auflöste. Jeden zweiten sprach er an wie einen alten Vertrauten. Dem klapste er auf die Schulter, dem nächsten nahm er ein Stück Kuchen aus der Hand, biß hinein und reichte es zurück, dort rief er in ein Haustor und war schon fort, wenn eine lächelnde Frau ihm durch die Tür hinterhersah. Ein Radfahrer näherte sich ihm von hinten, zog ihm das Portemonnaie aus der Gesäßtasche, beschleunigte und warf es ihm vor die Füße, das war wie einstudiert. Ein kleiner Junge kreuzte Mirkos Weg, er packte ihn am Kopf, drehte ihn um sich selbst und ließ ihn wie ein aufgezogenes Spielzeug in die entgegengesetzte Richtung laufen. Ein Mann hatte sich gerade eine Zigarette in den Mund gesteckt, da hatte sie ihm Mirko schon von den Lippen genommen, das ersparte ihm das Anzünden, das hielt schon zu sehr auf, die Bewegung hätte stocken müssen. Er stand mit der ganzen kleinen Straße in Beziehung. Er erweiterte seine schlanke Person in alle Richtungen, lachend, spielend und unablässig vorandrängend, so daß wir bald schon ein weniger bevölkertes Viertel erreicht hatten.
Sowie der Widerstand der bewegten Menge aufhörte, fiel er in Ratlosigkeit. Er brauchte die anderen, um er selbst zu sein. Wohin strebten wir nur? Wohin hatte der Sturmschritt uns führen sollen? Zu Ivan Mestrovics Geburtshaus? Wer war das noch gleich? Ivan Mestrovics gab es viele; er gestand mir mit triumphierendem Lächeln, daß mehr oder weniger alle Kroaten im näheren Umkreis Mestrovic hießen. Er gehörte nicht einfach nur einer respektablen Familie an, sondern weit mehr, einer starken Sippe, einem großen Clan, einem kleinen, aber ausgezeichneten Volk.
Wir blieben stehen. Ich wußte nicht, wie ich mich verständlich machen sollte. Hatte Ivana ihm nicht meine Wünsche beschrieben? Gewiß, sie war die Intelligenteste in der Familie. Nicht von ungefähr hatte sie den Aufbruch nach Nordwesten gewagt, dazu kam die innere Unabhängigkeit, bei unvermindertem Stolz auf den Mestrovic-Stamm auch ohne dessen Schutzschirm leben zu können. Gleich ihr hatte sich Ivan Mestrovic aus dem angestammten Kreis entfernt. Wäre er ein namhafter Boxer geworden, man hätte damit noch etwas anzufangen vermocht, aber dann sagte ich mir, daß dieser Sippe womöglich das gesamte Konzept vom »großen Mann« fremd bleiben mußte, weil es das durch die Blutsverwandtschaft geschaffene Kollektiv war, worauf es ankam. Wichtig war die Zugehörigkeit, und ein gutes Mozart-Ensemble – ein gewagter Vergleich, die Mestrovics waren grund-unmozartisch – zeichnet sich eben dadurch aus, daß niemand daraus hervorragt.
»La Piazza« wurde die Kleinstadt bei den kroatischen Bauern genannt. War das eine Hinterlassenschaft der Mussolini-Zeit oder viel älter, venezianisch, oder eine Erinnerung an ferne Zeiten, als Bosnien Teil des römischen Kaiserreichs war? Metropolitan war an unserer Piazza jedenfalls die Diversität der Kultstätten. Am Ortseingang waren wir schon an einer schönen Moschee vorbeigekommen, mit der Schildkrötenpanzer-Kuppel in hellgrün gestrichenem Blech und den bunten Glasscheiben der Fenster. Ein Stück weiter kam das orthodoxe Kirchlein der Serben, die Fenster bloße Schießscharten, die kleine Kuppel war gleichsam halslos in das Kirchenschiff gedrückt, die Farbe der Fassade blätterte dick wie Baumrinde ab, unordentliches Mauerwerk und viel gelber Sand wurden sichtbar.
Und nun standen wir vor der römisch-katholischen Kirche in kolonialer Neugotik wie für die elektrische Eisenbahn, unter Kaiser Franz Joseph erbaut, ein Herz-Jesu-Tempel, wie das Stuck-Relief über dem Eingangstor zeigte. Bis die Habsburger kamen, war die katholische Messe hier von umherschweifenden Franziskanerpatres auf den Bauernhöfen gefeiert worden, und wenn ich die Zeichen richtig deutete, war im Hause Mestrovic eine tiefere Bindung an diesen neugotischen Bau nicht entstanden –
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