Das Blutbuchenfest
nach Bosnien herstellte als ihr mobiles. Nachdem sie gewählt hatte, entstand eine durch nichts unterbrochene Stille im Hörer, wie mit Kissen erstickt. Sie kannte das schon, wartete aber heute mit vervielfachter Ungeduld auf das gewohnte Tuten. Nach zwei Minuten endlich drang ihr Ruf nach Hause durch. Sie sah den Apparat auf dem Küchenbüfett vor sich, der jetzt klingeln mußte. Die Schwägerin nahm den Hörer ab. Sie war nicht redselig, aber genau. In Ivana entstand ein eindringliches Bild des Augenblicks.
Auch dort unten war der Tag schön, rauchigblau stand der helle Abendhimmel über den Hügeln. Die Landschaft lag in tiefem Schweigen. Aber es war nicht das Schweigen der Abendruhe, das Schweigen zum Plätschern in der rosa Plastikschüssel beim Füßewaschen, es war ein brütendes Schweigen. Auf dem Hof der Mestrovics rührte sich nichts. Alle waren im Haus versammelt. Der kranke Vater – er hatte etwas an den Nieren – war aufgestanden und vollständig angezogen. Gekocht wurde nichts, als sei der Rauch aus dem Schornstein schon eine Gefahr, und Licht wurde erst recht nicht angemacht. Die Familie saß in immer matterem Schein, der durch die kleinen Fenster drang, aber man kannte die Menschen und jeden Winkel in der großen Küche, und die Mutter dachte vielleicht an die vielen Jahre, in denen man abends vor dem frühen Schlafengehen immer im Halbdunkel gesessen hatte – nur daß jetzt niemand ans Schlafengehen dachte.
In deutlichem Abstand, als schwarze, kubische Skulptur, lag etwas unterhalb das Haus der muslimischen Familie, aus dem gestern die vielen Stimmen zu hören gewesen waren. Jetzt herrschte auch dort die Stille – ob eine der Verlassenheit oder eine des angehaltenen Atems, das hätte man oben bei den Mestrovics gar zu gern gewußt. Und doch schien eher, es bereite sich dort etwas vor. Mirko stand auf und verließ den Raum. Auf dem Speicher waren fünf Gewehre versteckt, seit längerem schon, wie bei allen anderen Leuten auch, vor allem auf den ländlichen Höfen, das hatte schon die Diktatur des alten Marschalls, der seinen Völkern das fette Knie in den Nacken gedrückt hatte, nicht verhindern können. In seinem Frieden lebten die Völker Bosniens als schlafende Armeen nebeneinander. Jetzt wachten sie auf. Warum erst jetzt? Ein Geheimnis war nur dieser Zeitpunkt. Bereit war man seit langem.
Aber doch nicht jeder in gleicher Weise. Ivana fürchtete vor allem um Mirko. Sie wußte, daß der heitere Luftgeist zur Panik neigte. Mirko mit Waffen – das war eine unheilvolle Vorstellung. Jetzt war Nervenkraft verlangt. Ivana wußte, daß sie sie aufbrächte, aber hier in Doktor Glücks Küche, während das Stimmenbrodeln an- und abschwoll, war dergleichen nicht gefragt, und im Gehöft der Mestrovics konnte sie nur mit der Stimme einwirken.
»Ihr müßt weg, sofort weg –« Wieviel Beschwörungskraft vermochte man in eine Stimme zu legen, die aus der fernen Sicherheit kam?
»Niemals«, sagte der Vater. Seien sie weg, sei das Haus verloren. Ivana, die ihre Jugend damit zugebracht hatte, die Backsteine dieses Hauses zu formen, hatte das Gehöft schon längst aufgegeben. Ihre Leute begriffen immer noch nicht, daß das Leben anders geworden war. Was war ein Haus? In vier Wochen stellte man anderswo ein neues hin. Sie hatten Pech gehabt, sie hatten im falschen Land gelebt, sie hatten ihre Lebenskraft vergeudet bis zur völligen Ausgelaugtheit. »Ihr seid Sklaven, die ihre Ketten lieben« – so etwas sagte Ivana natürlich nicht, dies wäre Wereschnikows Stil gewesen, aber das meinte sie; nur, wie faßt man so etwas in der Eile in eine Sprache, die verstanden wird?
Rotzoff hatte sich noch nicht völlig gefangen. Seine Rolle an diesem Abend war ihm noch zu unbestimmt. Daß »es sich fügte« in Glücks Garten, war unabweisbar. Beim bloßen Anblick der Festmenge von der Terrasse hinab, mit dem Haus im Rücken, der massive Schwatzlärm dort schon mit Musik vermischt – Zigeunergeigen jaulten mit Synthesizern um die Wette, und der Zöpfchenmann patschte auch mit den Händen auf seine Platten, wenn es zu schön wurde, um sie spratzeln und zischen und entgleisen zu lassen –, mußte man davon überzeugt sein: Dies Fest war ein Selbstläufer, auch ohne Unterwäschemodenschau, die freilich das I-Pünktchen gewesen wäre. Aber die Leute in ihrer großen Mehrzahl realisierten nicht, daß dies alles Rotzoffs Werk war, daß sie sich auf Rotzoffs Kosten amüsierten, saufend jedenfalls, was das Essen
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