Das Blutbuchenfest
falsch.
Jetzt war Mirko am Apparat. Nachts waren im Nachbarhaus bei den Muslimen viele Stimmen zu hören gewesen. Die untere Halle dort war voller Männer. In einem entlegenen kroatischen Gehöft hatte es gleichfalls eine Versammlung gegeben, aber Mirko war nicht eingeladen worden; da rächte sich, daß der Vater vor einer Woche in größerem Kreis Mehmed, den Familienvater im Nachbarhaus, in Schutz genommen hatte. In der Kleinstadt sei eine Granate in das Kaffeehaus geworfen worden – von wem, war noch nicht klar, aber daß zwölf Menschen tot waren, schien sicher. Gerüchte schwirrten herum. Alle Mestrovics stünden auf einer schwarzen Liste. In der Kleinstadt hatte der muslimische Metzger verkündet, er werde nicht ruhen, bis alle Ustascha-Mitglieder umgebracht seien.
»Ihr müßt weg.« Ivanas Stimme hatte das hart Bellende, das zum Familienton gehörte. Die große Expression, die ihrem Temperament entsprach, war nicht üblich im Haus. Mirko und Anna, die Lügnerin, widersprachen sich nicht, das war besonders beunruhigend. »Wer auf dem Feld ist, laufe nicht mehr ins Haus, um einen Mantel zu holen« – wo hatte sie das gehört?
Es war der Nachmittag vor dem Fest. Ivana zog, nachdem das Gespräch beendet war, ihr rotes Kostüm an und malte die Lippen rot, indem sie sie wie stets etwas verbreiterte. Es war ihr nicht gegeben, ihre Gedanken zu spalten – hier ihre Pflicht zu tun und auf alle Abläufe ihre Aufmerksamkeit zu richten, dort an die Familie zu denken und mit ihnen den Verlauf der nächsten Stunden abzuwarten, wohlmöglich auch lenkend einzugreifen. Wenn der Vater krank lag, war sie es, die ihn vertrat. Nun mußte es ohne sie gehen. Die Anstrengung war ihr anzusehen, wenn man sie kannte. Ihre Miene war reglos, als sie bei Doktor Glück eintraf und dort Merzingers Leute vorfand. Doktor Glück würde für diese Nacht in den Frankfurter Hof ziehen. Sein Schlafzimmer wurde als Anrichte- und Vorratsraum gebraucht. An den fremden Leuten, die Kisten mit Gläsern und Tellern aus einem Lastwagen luden und ins Haus brachten, eilte sie vorbei, um Glücks Sachen in den Wandschränken zu verstauen. Danach zog sie die Schlüssel ab. Was in diese Schränke gelangt war, würde jedenfalls gerettet werden.
Regen war angesagt, kam aber zunächst nicht. Der Garten Glücks lag im späten Sommerlicht. In den Beeten an der Gartenmauer blühten nebeneinander bleiche, hundertblättrige Rosen und hexenhafter Fingerhut. Die Blutbuche in ihrer Majestät enthielt in ihrem Innern schon die Schwärze der Nacht, während die Blätter außen tief burgunderrot leuchteten. Wer die altgermanische Religion der Baumanbetung hätte plausibel machen wollen, hätte nur auf diese Blutbuche weisen müssen, um von der melancholischen Präsenz eines mächtigen, mit dem Wurzelwerk ans Erdreich gefesselten Lebewesens zu überzeugen.
Vor dem Baum waren die Festesdekorationen, die Merzinger veranlaßt hatte, beinahe ein bißchen läppisch, obwohl Frau Markies ihn ermutigt hatte, aus dem vollen zu schöpfen. Gewiß, sagte sich Merzinger, aber seine Erfahrungen mit Rotzoff steckten ihm in den Gliedern. Er traute der neuen Entwicklung nicht ganz und wollte sein Risiko klein halten. Immerhin hatte er auf der Wiese – bewußt wird dieser weite grüne Raum nicht Rasen genannt, so durchsetzt war er mit Löwenzahn, Huflattich und Moos – einen großen roten Sisalteppich breiten lassen, der nun auch schon recht feucht war, in den man aber wenigstens nicht einsank. So groß der Garten für die Innenstadt war, verlieren würden sich die Hunderte – wieviel waren es denn nun eigentlich? – jedenfalls nicht. Frau Markies hatte noch einmal nachgeladen, damit »gute Leute«, wie sie sagte, das Bild bestimmten. Frankfurt war zwar gesellschaftlich bei weitem nicht so heikel wie Hamburg oder München, es herrschte ein Kommen und Gehen. Der Kreis der Alteingesessenen mit ihrer sozialen Hierarchie war klein, aber es galt auch hier, was sie als Grundregel definierte: daß die schlechte Gesellschaft stets die gute verdränge. Gute Gesellschaft war flüchtig. Wenn man da in die Nase bekam, man sei am falschen Ort, war man alsbald davongeflogen und kam niemals wieder.
Frau Markies staunte, wie gleichgültig Doktor Glück gegenüber solchen Einsichten war. Der Mann brauchte wirklich Hilfe. In seinem Interesse hatte sie bei den von ihr veranlaßten Einladungen von der peinlichen Bezahlerei abgesehen – wenn ein Doktor Glück einlud, dann lud er wirklich ein
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