Das Blutbuchenfest
nicht verteidigte. War meine Furcht vor Ivana stärker als meine Loyalität zu Winnie?
Jedermann behauptete, Frau Colisée sei ein guter Mensch, sagte Ivana, jetzt mit nur noch maliziösem Funkeln in den Augen – die Blutröte war weggewischt, als sei sie nie gewesen –, aber das stimme nicht. Frau Colisée sei von ihr längst durchschaut; sie sei dumm und schwach, aber das sei etwas anderes als gut. Wenn Frau Colisée noch auf ihrer früheren Höhe wäre, dann müßte auch ich erkennen, daß sie nicht gut sei. Und Winnie – mehr wolle sie nicht sagen –, Winnie sei nichts für mich. Ob ich schon einmal in Winnies Zimmer gewesen sei?
Tatsächlich bin ich dort nicht ein einziges Mal gewesen. Wir verhielten uns der Tante gegenüber, als sei sie die notorische Wirtin der Vorkriegszeit, die sich Herrenbesuch verbat, was gegenüber dieser freiheitsdurstigen Frau, selbst in den Jahren ihrer uneingeschränkten Herrscherfreude eine äußerste Ungerechtigkeit dargestellt hätte, aber nun war mir, als habe Winnie auch andere Gründe, mich von ihrem Zimmer fernzuhalten. Ich sei unordentlich, erklärte Ivana, aber ein Mann. Männer seien Schweine – jetzt lachte sie so glücklich, daß ich darauf vertraute, das Schlimmste liege inzwischen hinter uns. Aber Winnie werfe nicht nur alles auf einen Haufen, sondern kaufe auch immerfort Kleider, die sie gar nicht anziehe. Jedes Mal, wenn Ivana das Zimmer betrat – die Tür ließ sich nur schwer öffnen, sie schob wie ein Räumgerät die textilen Haufen beiseite –, seien neue Tüten da, zum Teil noch gar nicht ausgepackt; manchmal glaube Ivana, Winnie sei nicht ganz richtig im Kopf. Und leider sehr krank.
Für ein Mädchen vom Land wie Ivana war diese Diagnose nicht mit Mitleid verbunden. Kranke waren eine Last, konnten nicht arbeiten, aßen aber und brauchten Pflege, wenn auf dem Hof eigentlich anderes anfiel. Ivanas Augen wurden klein, der schmale Mund ein spitz zusammengezogenes Schnütchen: die bildreiche Darstellung des Begriffs »unnütz«. Wundervoll unnütz! hätte ich dagegenhalten müssen, nur zum Lieben nütze, für die Liebe gemacht, für die Liebe geboren, den Mann, der sie lieben durfte, in um die Finger gewickelte Lockenspiralen einspinnend.
Aber ich verstand jetzt besser, was Winnie meinte, wenn sie kopfschüttelnd sagte, die gegenwärtige Mode stehe ihr einfach nicht. Sie sehe verboten darin aus und wolle doch wirklich auch einmal etwas anderes tragen als immer nur die Militärhosen, aber sie finde nichts, und wenn ihr etwas gefalle, was selten vorkomme, dann sei es im nachhinein doch für sie das Falsche gewesen – man könne eben nicht die Gesichter und die Haare der Mannequins, die die Sachen vorführten, mitkaufen – »zum Glück«, rief ich, sie sah mich zweifelnd an, aber nun war klar, daß sie nicht in die Luft hinein klagte, sondern offenbar ernste und ehrgeizige Anläufe unternahm, um ihre Garderobe zu komplettieren oder vielmehr die von Ivanas Cousine: Wie viele Tüten habe sie schon an Ivana weitergegeben.
Dankbarkeit hatte sie damit freilich nicht erzeugt, wie sollte die auch durch Geschenke hervorgerufen werden, die die Schenkerin offen mißachtete. Ivana öffnete eine Parenthese. Ihr Verhältnis zu Kleidern sei eben ein anderes, sie habe es zu Haus anders gelernt. Ein einziges gutes Kleid habe jede Frau bei ihr zu Hause gehabt, und dieses eine sei ganz und gar im Haus entstanden, von ihr selbst gemacht, von Anfang an, und dieser Anfang bestand im Säen des Flachses. Später kam das Ernten des Flachses. Nun mußten die Flachsfasern aus den Stengeln herausgelöst werden. Dafür gab es eine hölzerne wellenförmige Presse, in der die Flachsstengel zerquetscht wurden, und was dann noch alles zu geschehen hatte – ihr fehlten die Fachausdrücke, aber mir erst recht, undeutlich meinte ich, etwas vom »Hecheln« des Flachses gehört zu haben, aber ob sich das auf die Arbeit mit dem Flachs oder die dabei geführten Gespräche bezog, war mir verborgen geblieben. Die Fasern wurden mit einer metallischen Bürste zerrauft – Ivana machte das in der Luft vor, ich spürte, wie hart die Fäden herangenommen wurden. Und dann setzte sich die Mutter ans Spinnrad und – ja, tatsächlich, im Jahr neunzehnhundertfünfundsechzig hatte sich in Mitteleuropa noch eine oder womöglich gar eine Vielzahl von Frauen ans Spinnrad gesetzt, um den Leinenfaden zu spinnen – immer auf dem Stuhl, den ich kennenlernen sollte, ihren Lebensstuhl, mit dem sie
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