Das Blutgericht
Bär von einem Mann. Er hat zwar nicht Rinks Muskeln, aber er dürfte immer noch die meisten Männer neidisch machen. Er ist ein gutes Stück über eins achtzig groß. Seine Haut ist so schwarz und ebenmäßig, dass er aussieht, als hätte ihn ein Bildhauermeister aus einem Stück Pechkohle gemeißelt. Bei seinen breiten Schultern und schmalen Hüften sitzt seine Kleidung genau so, wie sie sitzen sollte. Trotz seiner vierzig Jahre konnte er es auf dem Football-Feld mit Männern aufnehmen, die halb so alt waren wie er. Und über Stil konnte er ihnen ebenfalls einiges beibringen.
Wir begrüßten uns, wie alte Soldaten es zu tun pflegen: die Linke kräftig einander auf den Rücken gelegt, unsere rechten Hände an den Daumen ineinander verhakt, ließen wir unsere Brustkörbe aufeinanderprallen.
»Gut siehst du aus, Harve«, sagte ich ihm.
Seine Jeans und sein Hemd unterschieden sich nicht groß von meinen, aber er wirkte, als sei er direkt den Seiten eines Hollywood-Tratschmagazins entsprungen, während ich aussah wie jemand, über den die Leute tratschten – aus den falschen Gründen.
Er berührte die Wunde an meinem Schädel und schüttelte amüsiert den Kopf. »Rink hat wohl wieder seine Feldlazarettkünste an dir ausprobiert. Der Typ konnte noch nie ’nen geraden Strich ziehen«, lachte er.
Ich hatte meine Kopfwunde ganz vergessen. Aber jetzt, wo Harvey sie erwähnte, fing das Ding prompt wieder an zu jucken.
»Ich habe ein bisschen was mitgebracht«, sagte Harvey und nickte in Richtung des Zimmers. »Besser, du säuberst das mal und trägst etwas desinfizierende Salbe auf. Wir wollen ja nicht, dass es sich entzündet.«
»Und was machen wir, wenn es sich entzündet? Meinen Kopf abschneiden?«
»Das wäre schon mal eine Verbesserung«, grinste Harvey.
Marianne stand in unserem Schatten. Sie sah zu Harvey auf, als sei er ein Halbgott, der auf einer Wolke vom Olymp herabgestiegen war. Es lag Ängstlichkeit in ihrem Blick, aber auch eine gehörige Portion Bewunderung.
»Sie müssen Marianne sein«, sagte Harvey und streckte die Hand aus.
»Mari«, antwortete sie scheu.
»Mari«, wiederholte er, nahm ihre Hand in seine und drückte sie zärtlich. Ihr Lächeln ließ sie aussehen wie das Mädchen, das ich auf den ersten paar Fotos gesehen hatte.
Sie sagte: »Ich habe Sie mir ganz anders …«
»Ganz anders vorgestellt. Ja, weiß ich. Sie haben gedacht, ich wäre so hässlich wie die beiden Grobiane, mit denen Sie Ihre Zeit verbringen mussten?« Er warf mir einen Blick zu, und ich grinste hinter Mariannes Rücken.
»Joe ist nicht hässlich«, sagte sie. Ich musste noch viel mehr grinsen. Vielleicht hätte ich nun meinerseits Rink verteidigen sollen, aber auf manche Menschen wirkte er tatsächlich eher so, als ob er sich in einem Lendenschurz und mit einer Keule in der Hand wohler fühlen würde. Andere hingegen fanden sein zerfurchtes Gesicht und sein vernarbtes Kinn attraktiv – den Inbegriff des bösen Buben.
Harvey fragte mich: »Wie geht es Rink?«
»Er hält sich ganz gut.«
»Er sollte nicht hier sein.«
»Das musst du mir nicht erklären«, sagte ich. Dabei blieb es. Harvey wandte seine Aufmerksamkeit wieder Marianne zu. Er legte seine Hand auf ihre Kevlarweste. »Kommen Sie. Gehen wir mal rein und sehen zu, dass Sie diese Modesünde mal loswerden.«
Harvey führte uns zu seinem Zimmer. Es war die Sorte Motel, bei dem sich die Rezeption in einem Extragebäude befindet und die Zimmer in den danebenliegenden, halbmondförmig angeordneten Hausflügeln. Direkt an der Straße lag der Parkplatz, dann kam der Rasen mit dem nachgemachten Totempfahl und zu beiden Seiten davon die Zimmer. Harvey hatte das abgelegenste Zimmer im rechten Flügel gemietet.
Es war ein Standardzimmer in einem Standardmotel: Doppelbetten, ein paar Stühle, eine Anrichte mit einem Pay-TV-Fernseher darauf. Die Anleitung, wie man den Pornokanal einschaltete, hing an der Wand daneben. Harveys Laptop war eingesteckt und ruhte aufgeklappt auf dem nächsten Bett. Eine halb geöffnete Tür gab den Blick auf ein Standardbadezimmer frei. Marianne machte große Augen, aber dann fiel ein Schatten über ihr Gesicht.
»Ich habe es überprüft«, versicherte Harvey ihr. »Keine Krabbelviecher. Die Dusche ist heiß, und die Handtücher sind sauber. Gehen Sie nur, Sie werden sich besser fühlen.«
Marianne stimmte mit einem leichten Kopfnicken zu. Während sie zum Badezimmer ging, zerrte sie an den Gurten ihrer Weste. Sie ließ das schwere
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