Das Blutschwert
niedersauste. Sie spürte, wie sie Fleisch zerschnitt und Knochen brach.
Willow verdrehte für einen Moment die Augen und verlor fast das Bewusstsein. Ihre Lider flatterten, und sie hörte eine leise Stimme - vielleicht die Stimme ihres Gewissens, vielleicht eine fremde Stimme - in ihrem Kopf flüstern.
Jaaaaa, wisperte die Stimme.
Ihre Hände legten sich um den Knauf einer imaginären Klinge.
Willow riss die Augen auf.
»Wow«, machte sie.
Unsicher stand sie auf und griff nach ihren Sachen. Vielleicht ging es ihr doch noch nicht besser. Jedenfalls war sie weit davon entfernt, sich normal zu fühlen. Normale Mädchen hatten keine Tagträume über Schwerter und über. Mord.
4
»Sie schreien«, sagte die große Kaiserin Wu und verbeugte sich tief vor ihrem eigenen Drachenthron mit seinen ausgebreiteten Jadeschwingen und den Perlenaugen, die boshaft im Licht der Öllampen glitzerten. Ihre weite Seidenrobe schimmerte auf dem Fußboden wie der Gelbe Fluss im Schein eines sommerlichen Sonnenuntergangs. Aber jetzt war es Winter und tödlich kalt im Inneren des Palastes.
Auf dem Thron saß Lord Chirayoju, ihr ehemaliger Innenminister und Hofzauberer. Er lächelte und faltete seine Hände vor der Brust. Seine Fingernägel waren scharfe Klauen und seine Zähne Fänge, an denen Blut klebte, denn er hatte vor kurzem gefressen.
Sie selbst musste ihm das Opfer bringen - einen guten Mann, der einen derart grausigen Tod niemals verdient hatte.
»Sage mir, große Kaiserin, schreien sie vor Schmerz oder vor Furcht?«, fragte er und schloss die Augen, während er auf ihre Antwort wartete.
»Ich... ich weiß es nicht.«
Seine Augen öffneten sich. Sie waren pechschwarz; und seelenlos. Das Feuer, das in ihnen loderte, war alles, was von dem ehrgeizigen Hofzauberer Chirayoju übrig geblieben war. Dieser Mann, der sich jahrelang bemüht hatte, den Göttern die Geheimnisse des Universums zu entreißen, war ebenfalls einen abscheulichen Tod gestorben. Aber sein Opfer war der notwendige Preis gewesen.
Was übrig blieb, war unsterblich. Ein grausamer Dämon, der wie ein Falke über die Wiesen und Reisfelder von China flog. Ein unbarmherziger Geist, der die Länder jener, die es wagten, sich ihm entgegenzustellen, mit Feuer heimsuchte und ihre Söhne und Töchter bei lebendigem Leibe verbrannte. Eine Kraft, die über der Natur stand und sogar dem Wind gebot.
Er öffnete sein Maul weit und zeigte der Kaiserin Wu seine Fänge. Sie wich zurück, und er genoss ihre Angst. Schließlich hatte sie zugesehen, als er gefressen hatte. Wunderschöne Jungfrauen mit winzigen, geschnürten Füßen, die sich widerspruchslos ihrem Schicksal ergaben und dahinwelkten wie zerbrechliche Pfingstrosen. Wagemutige Kriegsherren in voller Rüstung, die mit gezückten Schwertern und Lanzen angriffen, während er über sie herfiel. Die Soldaten kämpften immer tapfer bis zum Ende. Chirayoju zog die kühnen Tiger den furchtsamen Kaninchen vor.
»Wenn du nicht weißt, ob es Schmerz oder Furcht ist, sollten wir zusammen hingehen und nachschauen«, schlug Lord Chirayoju vor und erhob sich.
Die Kaiserin konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, als er vom Jadedrachenthron stieg und mit ausgestreckten Händen auf sie zukam. Zusammen schritten sie quer durch den Thronsaal auf die Geheimtür in dem Lackpaneel hinter dem großen Sessel zu. Vor seiner großen Veränderung hatte sie ihm gnädig gezeigt, wo sich die Druckplatte befand, und jetzt lächelte er sie an, als er seinen Klauenfinger auf die Platte legte und die Tür auf magische Weise aufglitt.
Der Höhleneingang war schmal, und Chirayoju forderte die Kaiserin auf, voranzugehen. Die Steifheit ihres Rückens und die Art, wie sich ihre Schultern hoben, verrieten ihr Entsetzen, während sie vor seinem kalten, toten Leib herschritt.
Er konnte ein entzücktes Lächeln nicht unterdrücken und hatte Mühe, dem Drang zu widerstehen, sie herumzuwirbeln und ihr das Herz aus der Brust zu reißen. Aber das wäre bloß ein flüchtiges Vergnügen gewesen, und im Moment brauchte er sie noch.
Mit einer einzigen Handbewegung erleuchtete Chirayoju den eisigen, übel riechenden Ort. Dies war die Höhle der Rache. Die kleinste von drei Höhlen. Das Gewölbe war so hoch wie der Kopf eines Drachens, und vom Boden bis zur Decke türmten sich Menschenknochen - die Überreste von Chirayojus Feinden.
Die zweite Kammer, die Höhle der Weissagung, war größer. In ihr hortete Lord Chirayoju die Schätze, die einst den
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