Das böse Auge
hierbleiben.« Ihre kleinen Hände betasteten seine Arme, sein Gesicht. Er hielt still. »Wer bist du? Auch du stammst nicht aus diesem Land…«
»Nein, Dai«, sagte Luxon sanft. »Auch ich komme von weither und habe meine Heimat verloren. Die Valunen halten mich gefangen, so wie sie dich gefangen halten werden, bis du…«
Er sprach nicht weiter. Welchen Sinn hatte es, sie zu quälen?
»Dann werden wir gemeinsam fliehen«, flüsterte sie.
Luxon lachte humorlos.
»Du wirst mich zu meiner Mutter Cyrle zurückbringen, und gewiß wird sie dich dafür belohnen. Was wünschst du dir am meisten, Luxon?«
Seinen Namen hatten ihr die Valunen also schon gesagt. Luxon lachte wieder, diesmal fast amüsiert. Sanft strich er ihr durch das goldene, bis weit über die zierlichen Schultern fallende Haar.
»Am meisten wünsche ich mir, aus dieser verdammten Düsterzone herauszukommen, ohne die Valunen auf den Fersen zu haben.« Er wischte ihr die Tränen von den Wangen.
»Cyrle wird es dir ermöglichen«, sagte Dai. »Ich weiß, daß sie es kann. Sie kann vieles.«
»Warum holt sie dich dann nicht selbst?«
Sie machte sich von ihm los und wandte sich ab. Luxon schien einen wunden Punkt berührt zu haben. Bisher glaubte er, die Kleine machte sich einen Spaß daraus, ihre kindlichen Phantasien zu spinnen. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte:
»Ich wollte dir nicht weh tun.«
»Das hast du nicht, aber du verstehst so wenig. Cyrle kann die Burg nicht verlassen. Deshalb schickte sie mich mit dem Drachen aus. Bevor der Zauberer starb, verfluchte er sie. Bis zu ihrem Lebensende ist sie dazu verurteilt, in seiner Burg zu leben. Sie kann sie nicht verlassen, aber sie wird die Drachen schicken, um nach mir zu suchen.« Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Luxon, wenn sie kommen, werde ich sie rufen. Wir werden zusammen auf ihnen zur Burg reiten, du und ich. Aber du mußt mir dabei helfen.«
Sie meinte wirklich, was sie sagte. Luxon stand auf und trat zum Höhleneingang. Unten am Rand der Senke warteten die Valunen und schüttelten ihre Fäuste, als sie ihn erblickten.
Luxon trat zurück, um nicht in ihre Augen sehen zu müssen.
»Dai, wenn das stimmt, was du sagst, so will ich meinen rechten Arm dafür geben, daß wir von hier fliehen können.« Er grinste. »Besser den linken. Wann rechnest du mit dem Eintreffen der Drachen?«
Sie zuckte die Schultern.
»In zwei, drei Tagen, oder in zehn. Niemand kann das sagen.«
»Dann werden wir auf sie warten.«
Er hatte wieder Hoffnung. Vielleicht trog sie ihn. Vielleicht wollte er sich betrügen lassen. Aber er hatte wieder etwas, woran er sich klammern konnte.
Er bemerkte nicht den zufriedenen Ausdruck auf Dais Kindergesicht.
Dai hielt sich wacker. Sie schien aus schier unerschöpflichen Quellen ihre Kraft zu schöpfen. Fast ununterbrochen hörte Luxon sie Geschichten erzählen, Märchen, die sie selbst von ihrer Mutter gehört hatte. Es war fast mehr, als die Valunen verdauen konnten. Immer weniger Zwerge kamen zum Erzählerfelsen. Sie waren daran gewöhnt, die Geschichten ihrer Hüter erst zu verarbeiten, sie sich gegenseitig wiederzuerzählen und davon zu träumen.
Luxon erkannte sehr wohl die Absicht des Mädchens. Dai war Kindern ihres Alters fürwahr um Jahre voraus. Sie machte ihre Sache fast zu gut. Indem sie die Zwerge hoffnungslos überforderte, sorgte sie dafür, daß die Senke sich mehr und mehr leerte. Dai konnte von den Blicken der Valunen nicht ausgezehrt werden. Ihre Blindheit schützte sie davor. Auch dies war völlig neu für die kleinen Bestien.
So verging die Zeit, und als das Rauschen am Himmel das Kommen der Drachen ankündigte, waren nur wenige Zwerge nicht in ihren Höhlen. Luxon stand bereit, um mit Dai auf den erstbesten Drachenvogel zu steigen und sich von diesem davontragen zu lassen. Er fühlte sich viel besser. Dai hatte ihm reichlich Nahrung und Trinkwasser verschafft, und die Valunen hatten ihn, den Sklaven, kaum noch beachtet.
Doch auch sie hörten das Schlagen der mächtigen ledernen Schwingen. Sie strömten aus ihren Höhlen, sahen die Drachen, wie sie sich aus der Düsternis schälten, und rannten in ihre Behausungen zurück, um gleich darauf mit ihren Schleudern den Kampf aufzunehmen.
Luxon zögerte nicht. Er stieß die Zwerge zur Seite, die sich ihm in den Weg stellen wollten, und kletterte flugs auf den Erzählerfelsen, wo Dai schon wartete und unverständliche Worte in den Himmel rief. Mächtige Schatten senkten sich herab.
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