Das böse Auge
zurück, nur voraus. Und jeden Augenblick erwartete er, die Burg aus dem Dunkel heraus wachsen zu sehen. Gab es sie überhaupt – oder brachte ihn Dai geradewegs in die Schattenzone hinein?
*
Noch weit schlimmere Ahnungen hätten den ehemaligen Meisterdieb wohl geplagt, hätte er jetzt in Dais Gesicht sehen können. Die blinden Augen leuchteten, der Kindermund zeigte ein böses Lächeln. Nur wenn Dai sich hin und wieder umdrehte, war sie wieder das unschuldige kleine Mädchen. Dann schwankte Luxon zwischen Selbstvorwürfen und Mißtrauen, das manchmal soweit ging, daß er an der Existenz einer Burg und der angeblich dort lebenden Mutter zweifelte.
Doch als er es am wenigsten erwartete, tauchte das Gemäuer aus der Düsternis auf. Die Drachen stießen die Köpfe nach unten und hoben die ledernen Schwingen an, so daß sie von den Winden langsam nach unten getragen wurden.
»Wir sind gleich da!« rief Dai.
Luxon erschauerte beim Anblick des düsteren Gemäuers. Die Burg war wie aus dem mächtigen, spitzen Fels gehauen, auf dem sie saß. Spitze Türme überragten verwinkelte, schiefe Mauern. Von den Hängen des Felsens stiegen Drachen in großer Zahl auf, wie um die Ankömmlinge zu begrüßen. Und wieder tauchten vor Luxons geistigem Auge die Schwärme dieser Kreaturen auf, wie sie auf Logghard herabstürzten und Tod und Verderben brachten, bevor sie sich in den Windharfen verfingen und wie blind von den Verteidigern der Ewigen Stadt niedergemacht wurden.
Schauriges Gebrüll anderer garstiger Geschöpfe war zu hören, als Dai den Drachen vor einer Steinbrücke niedergehen ließ, die über eine unergründlich tiefe Schlucht zum Haupttor der Burg führte. Sicher setzte der Drachen auf und rührte sich nicht mehr.
»Hilf mir herunter!« bat Dai. »Wir sind da. Cyrle wird dich fürstlich belohnen, Luxon. Hab keine Angst!«
Das mußte er sich von einem Kind sagen lassen!
Luxon ließ sich am Hals des Drachen herab und streckte die Arme nach dem Mädchen aus. Dai ließ sich hineinfallen und bis zur Steinbrücke tragen. Ihr glückliches Lächeln ließ Luxon seinen Argwohn sofort wieder vergessen.
Hier gab es keine Sonne, kein Licht. Alles war finster. Luxon stand am Rand des Abgrunds und spähte in die Tiefe. Die umliegenden Gipfel lagen weit unter diesem Felsen. Die Landschaft war zerklüftet und wild. Die Hügel der Valunen waren ein kleines Paradies dagegen.
Die Drachen hockten wieder auf den Felsen oder verschwanden in der Ferne. Das Gebrüll kam von hinter den verfallenen, unheimlichen Mauern.
»Warte hier!« rief Dai, und schon lief sie auf die Steinbrücke. »Ich hole meine Mutter!«
»Aber… warum kann ich nicht gleich mitkommen?«
»Warte hier!«
Was sollte dies nun wieder bedeuten?
Dai war auf der Brücke. Leichtfüßig lief sie darüber, als gäbe es links und rechts keinen Abgrund. Noch einmal drehte sie sich um und winkte Luxon zu. Dann verschwand sie hinter den finsteren Mauern, als das Tor von innen knarrend und quietschend einen Spaltbreit aufgezogen wurde. Vergeblich suchte Luxon in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Hatte Cyrle geöffnet? Oder gab es hier Krieger, von denen Dai nichts erwähnt hatte?
Heulend kam wieder Wind auf, wie hergezaubert. Luxon fröstelte, obwohl es hier nicht viel kälter war als bei den Valunen. Doch dies war eine Kälte, die in die Glieder fuhr wie die Nebel eines frostigen Wintertags. Luxon kreuzte die Arme über der Brust und zitterte leicht. Wieder und wieder sah er sich um. Die Drachen wirkten nun ebenfalls wie aus dem Felsgestein herausgehauen. Aber ihre starren Augen waren auf ihn gerichtet.
Er kam sich vor wie im Stich gelassen, wie ein Bettler, der unschlüssig vor den Toren eines von gräßlichen Kreaturen bewachten Palasts stand.
Nur war dies kein Palast, sondern ebenso Ausgeburt der Finsternis wie die Drachen, dieses Land selbst, alles um ihn herum.
»Komm endlich zurück, Dai«, murmelte Luxon.
Das große Tor öffnete sich. Luxon hörte wieder das Knarren und Quietschen, dann Kettengerassel. Irgendwo wurde eine Winde aufgerollt. Er kniff die Augen zusammen, um endlich etwas sehen zu können.
Ihm stockte der Atem.
Nicht Dai trat aus den Schatten, sondern ein Weib, betörender als alle Frauen, die Luxon je begegnet waren.
Das also war Cyrle!
Luxon vergaß die Drachen, die Kälte und die Finsternis. Er hatte nur noch Augen für diese hochgewachsene Schönheit, die nun auf halbem Wege stehenblieb und ihm winkte.
Alles hatte er erwartet,
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