Das boese Blut der Donna Luna
alles durchschaut, die Verheißung erfüllte sich, die Befreiung von den Ketten, die die Seele fesseln, wird sein wie ein Geschenk. Ein sauer verdientes Geschenk. Wieso begreifen die Menschen nicht, wie einfach es ist, dem Leiden ein Ende zu setzen und eine höhere Daseinsebene zu erreichen? Das Bewusstsein zu erlangen, wie klein und nichtig alles ist. Dass selbst ein bedeutungsloses oder abartiges Leben im absoluten Licht des reinigenden Augenblicks einen Wert bekommen kann. Der Schmerz ist zwar noch da, doch nur vage, wie ein verkapseltes Virus, das keinen Schaden mehr anrichten kann. Selbst der Drang zu handeln, das befreiende Opfer zu wiederholen, wird bald ein Ende haben. Bald wird alles im Nichts der mondlosen Nacht vergehen. In der Nacht des schwarzen Mondes. Und das Warten wird ein Ende haben.
Während sie in der Eingangshalle von »Mani amiche« mit einem geradezu widerwärtig süßen Kaffee aus dem Automaten in der Hand an der Wand lehnte, um einer neuen Ohnmacht vorzubeugen, und von dem hektischen Durcheinander um sie herum nichts mitbekam, hörte Nelly, wie jemand sie rief. Ganz deutlich. Sie sah sich suchend um und erblickte im Spiegel rechts an der Wand Claires Gesicht. Doch vor dem Spiegel stand keine Claire, nur ihr Spiegelbild war zu sehen. Eine Vision, und jetzt höre ich auch noch Stimmen. Ich bin reif für die Zwangsjacke. Sie schüttelte den Kopf, schloss die Augen, öffnete sie wieder, und das Bild war verschwunden. Aber die Stimme in ihrem Kopf drängte weiter: Nelly! Komm! Taumelnd wich sie den Schatten aus, die sie umgaben, trat auf die Gasse hinaus – so glaubte sie zumindest – und machte sich auf den Weg in Richtung Via Balbi. Doch statt die vertrauten Stadtfassaden vor sich zu sehen, befand sie sich plötzlich auf einem Pfad im Grünen, auf dem Land. Kies knirschte unter ihren Füßen, und sie blieb verwirrt stehen. Mit einem Mal war es dunkel geworden, und Nelly fürchtete zunächst, sie sei erblindet, weil sie nichts mehr sehen konnte. Nach und nach ließen sich unten in nicht allzu weiter Ferne die Lichter der Stadt erkennen, die in der nächtlichen Dunkelheit flimmerten, und dahinter, jenseits der Küstenlinie, das schwarze Meer. Inzwischen war ihr zu Bewusstsein gekommen, dass sie sich wieder in einem Traum oder zumindest in einem Niemandsland außerhalb der Wirklichkeit bewegte, und die Angst wich einer gespannten Neugierde. Sie sah einen Schatten und erkannte ihn. Claire war dort. Ohne ihr Beachtung zu schenken, ging die Schwarze auf einen bestimmten Punkt rechts von ihnen zu. Nelly folgte ihr ohne das winzigste Geräusch. Endlich konnte sie ein schwaches Flackern ausmachen, ähnlich einer Kerzenflamme, das von den Fenstern eines flachen, langgestreckten, von Bäumen und Büschen halb verdeckten Gebäudes zu kommen schien. Nelly hielt den Atem an, und auch ihr Herz schien stillzustehen. Der Himmel war schwarz, schwarz auch der Garten und das Meer jenseits der lichtgesprenkelten Stadt, die zwischen dem Gesträuch hindurchblitzte. Vor ihr nur das fahle Glimmen eines schwachen Feuers. Eine heftige Übelkeit stieg in ihr auf, sie hatte das Gefühl, sich in ihrem Traum oder Albtraum übergeben zu müssen. Sie trat in Claires Schatten und schlüpfte hinter ihr durch die angelehnte Tür ins Haus.
Der Notarzt beugte sich über Nelly. Im Krankenwagen hatte man sie intubiert, um die Atmung zu sichern, und ihr einen Tropf mit einer salzhaltigen Lösung gesetzt. Die Krankenschwester maß ihren Blutdruck. Vor wenigen Minuten war sie bewusstlos eingeliefert worden, ein weiteres Opfer der afrikanischen Hitze dieses seltsamen Sommers. Ihre Werte waren äußerst niedrig, ein regelrechter Kollaps. Eine weitere Krankenschwester bereitete in Rekordzeit die Adrenalinspritze vor. In der Notaufnahme des Galliera-Krankenhauses ging es hektischer zu als auf der Piazza De Ferrari zur Stoßzeit, Ärzte und Pfleger, die selbst kurz vor dem Zusammenbruch standen, wuselten hin und her und versuchten, die Kontrolle über das Chaos zu behalten. Nellys Blutdruck sank weiter, der Arzt murmelte heiser: »Die geht uns flöten. Herzstillstand. Schnell, wir müssen defibrillieren. Schnell, Martina, den Defibrillator!«
Nellys Blick schwankte, oder besser, ihre Vision schwankte und war nicht mehr ganz klar, es war, als ob die Luft flirrte wie bei einem Brand und die Bilder verzerrte. Die Frau lag bäuchlings auf einer Art Tischlerwerkbank und war bis zum Hals mit einem Wachstuch bedeckt. Ihre Augen waren
Weitere Kostenlose Bücher