Das boese Blut der Donna Luna
geboten, der Kerl konnte irgendwo eine Waffe versteckt haben, außerdem kannte er die Gegend sehr viel besser als sie. Licht zu machen war also nicht ungefährlich. Nelly entschied sich für die Dunkelheit und knipste die Taschenlampe aus. Schwarze Nacht war eine recht treffende Beschreibung für das, was sie im wörtlichen und übertragenen Sinne umgab. Sie war dermaßen mit Adrenalin vollgepumpt, dass sie die Angst, die ihre Arme mit Gänsehaut überzog, nicht spürte.
Sie lief talwärts die Terrassen entlang, und die Lichter der Stadt schienen näher zu kommen. Wo zum Henker hat sich das Arschloch verkrochen ... Vorsichtshalber hielt sie sich an stärkeren Zweigen und Sträuchern fest und versuchte, so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Sie folgte ihrem Instinkt, bis eine Art sechster Sinn sie jäh innehalten ließ. Etwas hatte sie erstarren lassen, ein heftiges Panikgefühl hatte ihre Beine gelähmt, die jetzt so sehr zitterten, dass sie sich nicht vom Fleck rühren konnte. Starr wie eine Salzsäule und mit aufs Äußerste geschärften Sinnen stand Nelly da und machte in der Finsternis vor sich einen unmerklich dunkleren, schwärzer als schwarzen Schatten aus.
An einen Stamm geklammert, machte sie mühsam einen tastenden Schritt nach vorn. Ihr Fuß fand keinen Halt. Vor ihr war nichts als Leere. Sie stand am Rand eines Abgrundes, dessen Tiefe in der Dunkelheit nicht zu erkennen war, der jedoch, da waren sich Nelly und ihr Körper sicher, tief genug war, um sie irgendwo dort unten in eine leblose Marionette zu verwandeln.
Instinktiv zog sie sich mit einem Ruck zurück und klammerte sich an den Stamm, als plötzlich etwas ihre rechte Schulter streifte und der Mann, der sie mit Schwung hatte hinabstoßen wollen, mit einem erstickten, eher überraschten denn angstvollen Schrei in die dunkle, blinde Tiefe stürzte.
Nelly war dermaßen verdattert, dass sie nicht sagen konnte, wie viel Zeit zwischen der Todesgefahr, die sie nur gestreift hatte, und dem dumpfen Aufprall, der aus dem dunklen Nichts zu ihr empordrang, vergangen war. Verfluchter Mistkerl, endlich hat’s dich erwischt! Völlig benommen spürte Nelly, wie jemand ihren linken Arm ergriff, und wollte schon schießen, als Gerolamos vertraute Stimme ihr ins Ohr flüsterte: »Alles in Ordnung, Dottoressa?« Sie begann dermaßen heftig zu zittern, dass sie sich fast selbst in den Abgrund befördert hätte. Gerolamo zog sie zu sich herauf und nahm sie fest in die Arme, bis das Zittern nachließ.
»Nelly? Privitera? Seid ihr das?«
Tanos gedämpfte Stimme klang ganz nah.
»Macht mal Licht, der muss da unten irgendwo sein, tot oder schwer verletzt. Er hat versucht, mich runterzustoßen, aber genau in dem Moment hab ich einen Schritt zur Seite gemacht, und er ist selbst runtergestürzt. Den hat’s garantiert völlig zerlegt, fliehen kann er jedenfalls nicht mehr.«
Wenige Minuten später war die Umgebung wie durch Zauberhand in Licht getaucht. Lombardo war ins Haus zurückgekehrt, hatte den Sicherungskasten gefunden und sämtliche Lampen im Haus und ein paar Gartenlaternen auf den Terrassen angeschaltet. Die grausige Dunkelheit verwandelte sich mit einem Mal in eine romantische, nächtliche Idylle, es fehlten nur noch die bunten Lichterketten. Jetzt konnte man sich sicher auf den Wegen und Stufen zwischen den Terrassen bewegen.
Als ihr klar wurde, dass sie allein dank einem tierischen Instinkt an der Kante einer rund ein Dutzend Meter tiefen Betonmauer stehen geblieben war, die das Erdreich womöglich vor Erosion schützen sollte, überkam Nelly ein Schwindel, und sie musste daran denken, dass sie nur vierundzwanzig Stunden vorher bewusstlos im Krankenhaus gelegen hatte. Unter Gerolamos besorgtem Blick ließ sie sich erschöpft aufs vertrocknete Gras fallen. Sollten Marco und die anderen die Stufen längs der Mauer hinabsteigen.
Doch kaum war Marco unten angekommen und versuchte, das, was wie eine große Fläche gewalzter Erde aussah, mit der Taschenlampe auszuleuchten, rief sie ungeduldig: »Und, ist er da unten oder nicht? Habt ihr ihn gefunden?«
Inzwischen waren auch die anderen unten angekommen; man sah die Lichtkegel der Taschenlampen, die sichtbar machten, was bis eben noch undurchdringliche Finsternis gewesen war: Sträucher, Büsche, Bäume. Doch keiner hörte sie oder wollte antworten. Nelly beherrschte sich noch ein paar Minuten, dann brüllte sie: »Was, zum Teufel, macht ihr da unten, seid ihr alle taub? Ist Manara nun da oder
Weitere Kostenlose Bücher