Das boese Blut der Donna Luna
undeutlichen Schemen auf der Treppe zu sehen. Sie kniff die Augen zusammen, um die Gestalt, die ihr irgendwie bekannt vorkam, besser erkennen zu können. Sie schluckte, und die Worte blieben ihr im Hals stecken. Es war ein hoher, dunkler Schatten, der sich kaum von der nächtlichen Finsternis abhob. Es sah aus wie ein großer Farbiger, wie der, den sie ein paar Tage zuvor mit Claire hatte reden sehen. Er sah sie an und schüttelte den Kopf. Sag nichts. Mit offenem Mund beobachtete Nelly, wie der Schatten sich auflöste, und Alessandro, der sich umgedreht hatte, um ihrem Blick zu folgen, sah sie fragend an.
»Glauben Sie, was Sie wollen«, stieß sie mühsam hervor. »Es ist immer noch so verdammt heiß, dass ich eine ganz trockene Kehle habe. Ich hätte gern noch einen Four Roses, mit ganz viel Eis, bitte.«
»Gern.« Er machte dem Wirt ein Zeichen, bestellte und sah sie dann fast zornig an. »Was haben Sie denn so angestarrt, Nelly? Wie ein Schizophrener, der eine Erscheinung hat!«
Sie hatte sich wieder gefangen.
»Vielleicht bin ich wirklich schizophren. Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne, aber das waren wohl nur die Schatten der Lampions, die sich im Wind bewegen. Und Sie, Alessandro – haben Sie nie irgendwelche Visionen, dort in Ihrem großen Haus in der Villa Camelia?«
Schweigen. Sie hätte schwören können, dass Palmieri auf seinem Stuhl erstarrt war.
»Wieso sollte ich?«
»Weil es ein Haus voller Schmerzen ist.«
Alessandro hatte für sich einen zweiten Bacardi bestellt, und der Wirt, ein großer, kräftiger und leutseliger Mann wie aus dem Bilderbuch, der Alessandro offenbar seit langem kannte, kam mit dem Tablett an ihren Tisch und stellte zwei Gläser und zwei Flaschen ab. Der Profiler nutzte die Unterbrechung, um sich von diesem x-ten Frontalangriff zu erholen. Er goss Nelly den Bourbon ein, schenkte sich einen großzügigen Schluck Rum nach und strich sich zum ersten Mal an diesem Abend mit der Hand über Wangen und Kinn.
»Sehr gut, Nelly, wir sind quitt, ich habe Sie unterschätzt.«
»Aber Sie haben nicht geantwortet.«
»Villa Camelia ist untrennbar mit meinem Leben verbunden. Sich von ihr zu befreien wäre wie mich von mir selbst zu befreien. Doch es stimmt, sie ist voller Schmerz gewesen, aber auch voller Freude. Um das zu begreifen, müssen Sie ebenfalls großen Schmerz erlitten haben, Nelly, einen schweren Verlust. Wie den Ihres Freundes Roberto, Maurizios Vater ...«
Kalte, unbändige, vom Alkohol verstärkte Wut stieg in ihr auf.
»Wie können Sie es wagen, in meinem Privatleben herumzuschnüffeln, Sie elendes Stück Dreck? Bringen Sie mich sofort nach Hause, haben Sie verstanden? So-fort!«
Nelly schnappte sich ihre Tasche und stieß dabei das noch halbvolle Glas Bourbon um. Für einen kurzen Augenblick war Palmieri völlig verdattert. Ein Ausdruck ehrlichen Bedauerns erschien auf seinem Gesicht.
»Verzeihen Sie, Nelly, ich bitte Sie. Sie haben doch bestimmt auch Informationen über mich eingeholt, oder nicht? Um mein Bestes zu geben, mache ich mich immer über diejenigen schlau, mit denen ich zusammenarbeiten soll ...«
Nelly hörte nicht mehr hin. Hastig und ein wenig unsicher auf den Beinen lief sie zu der kleinen Straße hinunter, die zum Auto führte. Als sie es erreicht hatte, bemerkte sie, dass er ihr nicht gefolgt war.
Noch immer zitternd vor Wut, lehnte sie sich an den Wagen und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. Mit der Ruhe kam die Selbstkritik. Sie musste zugeben, dass sie ihn provoziert hatte. Sie hatte ihn aus dem Konzept gebracht, die Rollen vertauscht, und er hatte sich gerächt. Doch dass er solch persönliche Informationen über sie eingeholt hatte ... das schmeckte ihr ganz und gar nicht. Sie würde mit Tano darüber sprechen.
Verdammt noch mal. Absolut unprofessionell von mir, aber auch von ihm. Der Panzer des großen Psychologen ist jedenfalls sehr viel dünner, als es auf den ersten Blick scheint. Jede Anspielung auf die Villa Camelia kann zu einem Riss führen. Was sie selbst anbelangte, musste sie sich niedergeschlagen eingestehen, dass die Erinnerung an die Vergangenheit auch sie noch immer erschütterte. Sie atmete ein paar Mal tief durch und sah, dass Alessandro keuchend auf sie zueilte.
»Statt uns auf den Mörder zu konzentrieren, zerfleischen wir uns gegenseitig, was?« Sie versuchte versöhnlich zu lächeln.
»Ich bitte Sie nochmals um Entschuldigung, Nelly, ich schäme mich wie selten in meinem
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